Ulysses Moore – Die Häfen des Schreckens
Masten der Mary Grey hinwegflogen. Ricks Blick folgte ihnen und fiel dabei auf das unnatürlich schief stehende Deck des Schiffes. »NEIN!«, schrie er. »JULIA!«
Das Mädchen war soeben an Deck erschienen. Sie sahen, wie sie darauf bis zur nächsten Reling hinunterrutschte und von dort aus auf das schäumende, kochende Meer hinuntersah.
»SPRING REIN! SOFORT!«, rief Jason ihr zu.
Doch rings um die Sharp Heels war immer noch der Strudel, der sich mit wahnsinniger Geschwindigkeit und Kraft drehte und alles, was in ihn hineingeriet, gegen die Felsen schleuderte und zermalmte.
Aus dem Augenwinkel nahm Jason wahr, dass etwas an ihm vorbeiflitzte. Er streckte den Arm danach aus, aber es war schon zu spät. »RICK!«, rief er, konnte aber nur noch zusehen, wie der Freund ins Wasser sprang und zwischen den Wellen verschwand.
Das Wasser drang von allen Seiten her ein. Die Laderäume waren bereits bis auf halbe Höhe vollgelaufen.
Kapitän Spencer stemmte sich gegen die Reling des Unterdecks. Er merkte, wie seine Kräfte ihn verließen. Eine Stufe auf einmal nehmend, stieg er die Treppe hinauf.
Die Mary Grey sank.
Und er starb.
Er spürte, wie sein Schiff unter der Wucht der eisigen Wellen zerbrach. Er hörte das Getöse des Strudels.
Spencer fiel hin und versuchte, sich wieder aufzurichten. Mühsam und mit letzter Kraft kroch er über das Deck. Bei jedem Herzschlag alterte er um ein Jahr. Er wurde schwächer und schwächer. Sein bisher so jugendliches Gesicht überzog sich mit Falten, die Haare wurden weiß und fielen aus, alle Wunden, die er jemals gehabt hatte, öffneten sich wieder, seine Knochen brachen …
Doch Kapitän Spencer kroch weiter über das Deck.
Er hatte sich seinen Tod oft vorgestellt. Aber niemals hätte er geahnt, dass er durch die Hand eines jungen Mädchens sterben würde.
Dann fragte er sich, warum er sie nicht daran gehindert hatte. Warum er nicht gekämpft hatte. Warum er nicht in dem Augenblick, in dem sie plötzlich vor ihm gestanden hatte, einen seiner vergifteten Dolche gezückt und sie erstochen hatte.
Er wusste keine Antwort auf diese Fragen. Oder vielleicht wusste er sie doch, wollte aber lieber nicht darüber nachdenken. Mittlerweile hatte diese Antwort keinerlei Bedeutung mehr.
Inmitten eines Chaos aus Wellen, hysterischen Affen, Gischt und Zerstörung schleppte sich Kapitän Spencer zum Steuer seines Schiffs.
»Jetzt …«, sagte er zu sich selbst. Inzwischen waren ihm seine Zähne ausgefallen.
Irgendwie gelang es ihm trotz allem, sich am Steuerrad hochzuziehen. Er nahm es in die Hand und blieb aufrecht stehen, wie ein richtiger Kapitän. Dabei fand er sogar die Kraft zu lachen. »Seht, wie ein Kapitän stirbt!«, schrie er den Felsen zu, an denen er zerschellen würde.
Es war das Ende. Das Ende von allem.
Auf einmal fiel ihm etwas ein. Er steckte eine Hand in die Tasche und zog eine Münze heraus. Eine Münze, in die auf beide Seiten Porträts geprägt waren. Sie war ihm übergeben worden, als er vor vielen Jahrhunderten das erste Mal einen der Dunklen Häfen betreten hatte.
»Ah-ha!«, rief er und besah sie sich zum letzten Mal. »Ihr habt euch geirrt!«
Diese Entdeckung verlieh ihm unversehens neue Kraft. Sie war der Beweis, dass noch nicht alles entschieden war. Und dass sich doch jeder seinen Tod aussuchen konnte.
Kapitän Spencer warf die Münze ins Meer. Jene Münze, die auf einer Seite sein Abbild und auf der anderen Seite das von Ulysses Moore trug. Und mit einem letzten, unheimlichen Lachen versank er mitsamt seinem Schiff im Meer.
Kapitel 27
Das Gesetz des Herzens
Julia spürte, wie das Meer sie verschlang. Es drückte gegen alle Teile ihres Körpers. Sie versuchte, sich zu bewegen und zu schwimmen, doch das Wasser war zu stark und ließ es nicht zu. Ihre Kleider sogen sich voll, ihre Knochen schmerzten, das Morgenlicht verschwand und machte der Schwärze des Wassers Platz.
Nein!, entschied sie. Sie wollte nicht ertrinken. Sie wollte nicht hier sterben, zwischen den Felsen unterhalb ihres Zuhauses. Dieselben, um die sie tausend Male herumgeschwommen war, jedes Mal erschrocken über die Wucht, mit der die Wellen gegen die Felsen gekracht waren. Sie dachte an die Algenbüschel, die unterhalb der Wasserlinie an den Steinen wuchsen, an die scharfkantigen Muscheln, an die Tiere, deren Lebensraum die Felsnadeln waren. Nein! Sie würde nicht so sterben. Und nicht an diesem Tag.
Nachdem sie mitbekommen hatte, wie Kapitän Spencer Moreaus Notizbuch das Geheimnis
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