Ulysses Moore – Die Häfen des Schreckens
der Spieluhr zu greifen, hätten die wirbelnden Schalter ihn abgetrennt. Sie drehten sich in einem wahnsinnigen Tempo, die einen links und die anderen rechts herum.
»ICH KANN DAS NICHT!«, schrie Jason außer sich.
Rick bedeutete ihm zu warten und zeigte dann auf etwas, das sich hinter ihm befand. Dann nickte er.
Was sollte das bedeuten?
Er konnte bei dem Krach nicht mehr denken. Es war, als hätten die Wellen des Meeres ihn mit sich fortgerissen. Als würden die Hilfeschreie aller Schiffbrüchigen in seinem Kopf widerhallen.
Er nickte, obwohl er eigentlich überhaupt nichts verstanden hatte, und Rick verschwand wieder.
Jason schaute nach oben zur Decke. Dann nach vorne. Und wieder zur Tür. Nichts geschah.
Er konnte weder von seinem Sitz aufstehen noch sich bewegen. Jason fühlte sich wie gelähmt.
Ein nervenzerfetzendes Kreischen – und augenblicklich wurde alles langsamer. Die Decke hörte auf, sich zu drehen, und auch die Geschwindigkeit der Hebel schien gedrosselt worden zu sein.
Rick musste irgendetwas gemacht haben. Er war rausgegangen und hatte eine Lösung gefunden. Und jetzt schien es, als würden die Hebel zurückgehalten und gebremst werden. Sie quietschten. Alles quietschte, als könne nur eine Bremse es wenige Sekunden lang in Zaum halten.
Jason sprang von seinem Sitz herunter und setzte mit ein paar Sprüngen über die acht Metallreifen am Fußboden hinweg. Er erreichte die Wand, bekam die Spieluhr zu fassen und riss sie heraus.
Es hörte sich an wie ein Donner. Ein Getöse, wie es entstehen konnte, wenn ein großes Flugzeug abstürzt.
Der ganze Raum erzitterte, und es war ein Knirschen zu hören, wie wenn Stein, Holz und Eisen aneinanderreiben.
Er stolperte, aber irgendwie gelang es ihm, die Schwelle zu erreichen. Noch einen Schritt und er ließ sich zu Boden fallen.
»Jason!«, rief ihm Rick aus dem dunklen Gang entgegen.
Jason stand wieder auf. Er taumelte auf den Freund zu und umarmte ihn.
»Schnell! Wir müssen hier raus!«
Für irgendwelche Erklärungen blieb keine Zeit: Mit wachsender Wucht klatschten die Wellen gegen den Tunnel unter dem Meer.
Schulter an Schulter rannten sie los, durch das Wasser, das jetzt schon knöcheltief durch den Gang strömte. Immer wieder fielen sie hinein und mussten sich gegenseitig wieder aufhelfen.
Rick und Jason rannten immer weiter, ohne genau sagen zu können, woher sie wussten, wohin sie in dem Wirrwarr der dunklen Gänge eigentlich laufen sollten. Hinter ihnen rauschte das Wasser. Plötzlich bemerkten sie vor sich einen fernen, kleinen hellen Punkt. Sie hasteten darauf zu und kamen in einer Höhle mitten in den Klippen von Salton Cliff heraus, in zehn Metern Höhe über dem Meer. Die Wellen waren so stark, dass die Gischt bis zu ihnen hinaufspritzte.
Das Licht, das ihnen den Weg gewiesen hatte, war das der Morgensonne gewesen, die endlich die dicke Wolkenschicht durchbrochen hatte. Erschöpft und außer Atem blieben die beiden Jungen erst einmal stehen, um zu verschnaufen. Der Strand von Kilmore Cove war vollkommen trocken, und das ganze Wasser schien sich rings um die Sharp Heels zusammengezogen zu haben, wo es in einem enormen Strudel alles ansog, was herumschwamm – einschließlich Kapitän Spencers Brigantine.
Das Schiff war von den Wellen emporgehoben und gegen die größere der beiden Felsnadeln geschleudert worden. Im Rumpf war ein Spalt entstanden, der sich zusehends verbreiterte und aus dem alles herausfiel, was unter Deck gewesen war: Seetruhen, Kanonen, Münzen, Vorräte, Rumfässer, Möbel und vieles andere mehr. Im Wasser schwammen schon Beiboote, Seile, Flaggen und zerrissene Segel. Und Affen, die verzweifelt versuchten, gegen den Sog des Strudels anzukämpfen und zum Ufer zu schwimmen.
Das auf die Felsen aufgelaufene Schiff stand kurz davor entzweizubrechen. Seine Planken knarzten jämmerlich, ebenso wie Masten, Rahen und Takelage. Es kam ihnen vor, als würde die Mary Grey vor Schmerzen schreien.
»Vorsicht!«, rief Rick plötzlich und riss Jason näher zu sich heran.
Von dem Felsvorsprung, auf dem sie standen, brachen zwei dicke Blöcke ab und stürzten ins Meer.
Die beiden Jungen beugten sich vor, sorgfältig darauf achtend, wo sie hintraten. Der Anblick, der sich ihnen bot, nahm ihnen den Atem: In den weißen Klippen von Salton Cliff hatten sich Risse aufgetan, aus denen ganze Wolken aufgeregter Glühwürmchen ausflogen. Schwärme von Insekten, die über die aufschäumenden Wellen und die brechenden, splitternden
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