Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
verrate es mir doch bitte«, entgegnete dieser, ohne sich zu Tommaso umzudrehen. Er dachte immer noch an sein Manuskript, das wie ein geborgener Schatz aus den Fluten zurückgekehrt war und sich nun im Besitz dieses Jungen befand, der eine viel zu große Kapitänsjacke trug.
»Sie sind gar kein echter Skeptiker.«
Der Chef der Brandstifter zuckte nur mit den Schultern. Natürlich irrte sich der Junge. Er, Malarius Voynich, war der
König
der Skeptiker. Er war der Rächer der irregeleiteten Gutgläubigkeit. Der Retter der Wirklichkeit. Seine Aufgabe im Leben bestand darin, die Dinge wieder an ihren richtigen Platz zu rücken. Das konnte man allein schon daran sehen, dass in seinem Büro jeder einzelne Gegenstand alphabetisch einsortiert war. Malarius Voynich war ein geradliniger Mensch, eine Persönlichkeit ohne Makel und Schnörkel.
Oder zumindest war er es gewesen, bevor er beschlossen hatte, auf Reisen zu gehen. Ganz abgesehen davon hatte seine Schwester ihn stets ermahnt, niemals zu reisen.
Unwillkürlich knirschte er mit den Zähnen. Bei dem Gedanken an seine Schwester Viviana bekam er sofort schlechte Laune. Das war natürlich alles andere als makellos.
Das war eine regelrechte Macke.
»Sie sind nicht so wie Bowen, Mister Voynich«, fuhr Tommaso fort.
»Oh doch, das bin ich wohl, Kleiner. Ich bin ein Chirurg, der mit Feuer arbeitet. Ich entferne Unreinheiten und Fehler. Ich lenke mit meinem Schirm die Blitze dorthin, wo ich es für richtig halte, und befreie die Leute von ihren Spinnereien und Wahnideen. Ich nähe zu, damit die Wunde vernarben kann. Und halte dadurch die Wirklichkeit instand.«
»Er kann dieses Haus doch nicht wirklich zerstören wollen«, sagte Tommaso, ohne sich beirren zu lassen. »Als Ihr Agent, dieser Eco, mich in Venedig gefangen nahm, wollte er wissen, wo Anita war. Anita war hierhergekommen, in dieses Städtchen, aber er wollte mir das nicht glauben. Es behauptete, Kilmore Cove existiere nicht. Die Villa Argo existiere nicht. Aber dann sind die Affen aufgetaucht, Mister Voynich, und die dürfte es in Venedig eigentlich gar nicht geben. Doch sie sind trotzdem gekommen und haben mich befreit. Sie haben mich zur mechanischen Gondel von Peter Dedalus begleitet. Das war jemand, den ich nur von den Seiten eines Buchs her kannte. Eines Buchs, können Sie sich das vorstellen? Und ich habe so langsam gar nichts mehr verstanden. Bis ich es aufgab, verstehen zu wollen, und endlich begriff, dass ich glauben musste. Ich habe an diese Geschichte geglaubt und so bin ich nach Kilmore Cove gelangt. Schuld daran sind die Seiten eines Buchs.«
Malarius Voynich hatte ihm schweigend zugehört. Im Grunde hatte er genau dasselbe erlebt. Nur, dass die Seiten des Buchs, das ihn nach Kilmore Cove geführt hatte, nicht beschrieben, sondern bemalt waren. Von einem verrückten Illustrator namens Morice Moreau, der die Wände seines Hauses in Venedig mit Fresken vollgemalt hatte.
Voynich hatte das Gebäude in Venedig über eine Londoner Maklerfirma gekauft. Es war nicht einmal besonders teuer gewesen, weil es angeblich in dem Haus spukte und niemand darin wohnen wollte. Er hatte eine professionelle Restauratorin hingeschickt mit dem Auftrag, die Fresken aufzufrischen. Dadurch hoffte er, das Geheimnis zu enthüllen, das mit dem kleinen Buch voller Bilder zusammenhing. Doch allmählich hatte er festgestellt, dass er nichts entschlüsselte, sondern etwas beobachtete.
Und auf irgendetwas wartete.
»›Die Wirklichkeit ist alles, was übrig bleibt, wenn man aufgehört hat, an sie zu glauben‹«, zitierte Voynich ein Motto, das den Gebrüdern Schere sicher auch gefallen hätte.
»Ja, genau so ist es, Mister Voynich.«
»Das ist nicht von mir«, stellte der Chef der Brandstifter sofort richtig. »Es stammt von einem Science-Fiction-Autor, der von Dingen erzählt, die nicht existieren.«
»Warum sagen Sie, dass sie nicht existieren?«, widersprach Tommaso und wedelte ihm mit seinem Schirm und seinem Manuskript vor der Nase herum. »Sind die hier Ihrer Meinung nach wirklich?«
Voynich hatte nicht die geringste Lust, dem kleinen Lausebengel einen Vortrag über die Wirklichkeit zu halten. Und der Umstand, dass dieser Lausebengel sein kostbares Romanmanuskript in der Hand hielt, machte die Sache nicht besser. Er hatte siebenundfünfzig Jahre gebraucht, um die ersten sechsundfünfzig Seiten zu verfassen. Und in den vergangenen Tagen wenige Stunden, um etwa zehn Seiten zu streichen und zwanzig neue zu schreiben.
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