Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
Reisender. Nur noch ein paar Minuten und du wirst es verstehen.«
Die Stadt Agarthi lag so plötzlich vor ihnen, als sei sie genau in diesem Augenblick aus dem Eis gewachsen. Sie hatte die Farbe der sie umgebenden Felsen und die spitz zulaufende Form der Gebirgskämme. Zunächst erschien sie Jason flach, wie auf eine Felswand aufgemalt. Doch als sie näher kamen, wurden die Rechtecke und Quadrate zu Häusern, die breiten Striche zu Türmen und Minaretten und die dünnen Striche zu Straßen und Gassen.
»Agarthi«, flüsterte Jason, von diesem unglaublichen Anblick ergriffen. Er stand auf. »Sie ist wunderschön!«
Die Stadt in den Gletschern vermittelte den Eindruck majestätischer Beständigkeit. Sie war so alt wie die Gletscher, wie das sie umgebende Eis aus längst vergangenen Zeitaltern.
Es war unmöglich, sie längere Zeit über anzuschauen, so stark spiegelte sie die Strahlen der Sonne. Es schien, als starre man direkt ins Licht. Die Häuser und Türme schimmerten silbern und golden.
Ihr seltsames Transportmittel lief mit hüpfenden Sätzen den schmalen, von Schnee freigeräumten Weg entlang. Erst als sie die ersten Gebäude erreicht hatten, kreuzten weitere Wege ihren Pfad und vereinigten sich zu einer breiten, mit schwarzen Steinen gepflasterten Straße, von der kleine Wasserdampfwolken aufstiegen.
»Wir sind angekommen, Jason Covenant«, verkündete sein Begleiter, als die mechanische Spinne vor der Stadt stehen blieb. Jason kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Es gab keine Stadtmauer und keine Wachttürme. Die Felsen und der Gletscher waren Agarthis einziger Schutz vor unerwünschten Eindringlingen.
Der weise Mann zeigte auf eine silberne Linie, die quer über die Zugangsstraße zur Stadt verlief. »Das hier ist die Lösung des Rätsels. Die Wahl, die du treffen musst. Die Linie, die du dort vor dir siehst, ist die Linie der Weisheit. Auf der anderen Seite dieser Linie wirst du die Antworten finden, die du suchst. Aber wenn du sie ein zweites Mal überschreitest, um zurückzukehren, wirst du sie alle wieder verlieren.«
Jason zwinkerte ungläubig. Anscheinend war die Weisheit doch nicht das, was er so dringend brauchte. »Also, ich verstehe immer noch nichts.«
»Man kann nicht auf beiden Seiten stehen«, erklärte der geheimnisvolle Mann geduldig. »Sobald du über die Linie getreten bist, vergisst du alles außer deinen Fragen. Und wenn du über die Linie gehst, um dorthin zurückzukehren, woher du gekommen bist, wirst du all die Antworten vergessen, die du bis dahin in der Stadt der Weisen gefunden hast.«
»Ich werde die Antworten vergessen?«
»Ja genau. So, wie ich meinen Namen vergessen habe. Aber sobald ich wieder die Linie der Weisheit überschreite, um an den Ort zurückzukehren, an dem ich geboren bin, erinnere ich mich wieder an alles.«
Jason war entsetzt. »Aber welchen Sinn hatte es dann, auf der Suche nach den Antworten hierherzukommen, wenn ich mich hinterher nicht mehr an sie erinnern kann?«
»Wenn das, was dir am meisten am Herzen liegt, eine Antwort ist, dann brauchst du nur über die Linie zu gehen.«
»Ja, aber ich muss mich doch auch an die Antworten erinnern können!«, protestierte der Junge.
»Wer sagt das? Wenn die Antworten die Stadt der Weisen verlassen könnten, wären sie ja nicht mehr hier. Und kein anderer könnte sie mehr finden!«
Jasons Gesicht verfinsterte sich. »Das ist doch Unsinn!«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte der Weise.
»Du hast gut reden. Es ist schließlich deine Stadt. Aber sobald du sie verlässt, weißt du nicht einmal mehr deinen Namen.«
»Und auch nicht mehr den Weg zurück. Es ist mein Gletscherkletterer, der den Weg nach Hause kennt«, erwiderte der Mann lachend. »Das ist aus Sicherheitsgründen so, junger Reisender. Alle sehnen sich danach, die Antworten zu besitzen.«
Jason kochte vor Wut. Er fühlte sich betrogen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich da reinwill«, knurrte er enttäuscht.
Der Weise nickte verständnisvoll. »Weisheit ist innere Ruhe. Und innere Ruhe bedeutet, keine Fragen mehr zu haben, die man stellen will. Das ist das, was Agarthi uns lehrt.«
»Das ist ja eine tolle Lehre!«
»Ich verstehe dich, junger Reisender. Du wirst noch von den Neigungen und Leidenschaften des Alltags beherrscht. Deshalb bist du noch nicht bereit, in Agarthi zu leben.«
»Und ich gebe zu, dass ich bezweifle, es jemals zu sein«, sagte Jason mit einem freudlosen Lachen.
»Ich kann dich wieder dorthin zurückbringen, wo
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