Um Haaresbreite
millimeterweise herauszuziehen, bis schließlich der tropfende und formlose Gegenstand zum ersten Mal seit fünfundsiebzig Jahren offen und der Luft ausgesetzt vor ihnen lag.
Sie standen in gespanntem Schweigen. Selbst Galasso schien beeindruckt zu sein, denn er hatte nichts zu sagen. Moon begann zu zittern und stützte sich mit den Händen auf einen Spültisch.
Sandecker zupfte sich den Bart, während Pitt seine vierte Tasse schwarzen Kaffee trank.
Wortlos schickte sich Galasso an, die Hülle aufzuschälen.
Zuerst betupfte er sie sanft mit einem Papierhandtuch, bis die Oberfläche trocken war. Dann betrachtete er sie von allen Seiten wie ein Diamantenschneider, der einen Stein von fünfzig Karat zerlegen will, prüfte ihre Festigkeit an verschiedenen Stellen mit einem kleinen Markierungsstift.
Endlich fing er mit der Enthüllung an. Entnervend langsam und bedächtig wickelte er die brüchige Verkleidung auf. Nach schier einer Ewigkeit gelangte er an die letzte Schicht. Er hielt inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rieb sich die Finger. Dann war er wieder bereit.
»Der Augenblick der Wahrheit«, verkündete er feierlich.
Moon griff zum Telefon und wählte die direkte Verbindung mit dem Präsidenten. Sandecker trat näher und blickte gespannt über Galassos Schulter. Pitts Gesicht war ausdruckslos, kalt und seltsam distanziert.
Das dünne, zerbrechliche Gewebe wurde behutsam angehoben und zurückgelegt.
Sie hatten das Unmögliche gewagt, und ihre einzige Belohnung war Enttäuschung, gefolgt von bitterer Niedergeschlagenheit. Das Wasser des Flusses war in das Innere des Wachstuchs gedrungen und hatte das britische Exemplar des Nordamerikanischen Vertrags in eine breiige, verwaschene Masse verwandelt.
FÜNFTER TEIL
DER MANHATTAN LIMITED
64
MAI 1989
QUEBEC, KANADA
Das Donnern der Jetmotoren ließ nach, als die Boeing 757 sich von der Startpiste des Flughafens von Quebec erhoben hatte.
Nachdem das Rauchverbotsignal erloschen war, lockerte Heidi ihren Sitzgurt, streckte ihr vom Knöchel bis zum Schenkel eingegipstes Bein in eine bequemere Lage und schaute aus dem Fenster.
Unter ihr flimmerte der St. Lawrence wie ein langes Schleifenband in der Sonne und fiel dann zurück, als das Flugzeug nach Süden in die Richtung von New York abdrehte.
Ihre Gedanken kehrten zu den Ereignissen der vergangenen Tage zurück. Der Schock und der Schmerz nach der Explosion unter der
Ocean Venturer.
Die rücksichtsvolle Aufmerksamkeit des Chirurgen und der Matrosen an Bord der
Phoenix
– ihr Gipsverband war voller Zeichnungen und Unterschriften. Die Ärzte und Krankenschwestern in Rimouski, wo man ihre ausgerenkte Schulter behandelt und herzlich über ihre kläglichen Versuche, französisch zu sprechen, gelacht hatte. Sie alle waren jetzt fern wie die Gestalten aus einem Traum, und sie fühlte sich traurig, weil sie sie nie mehr wiedersehen würde.
Sie hatte nicht den Mann bemerkt, der sich neben sie gesetzt hatte, bis er ihren Arm berührte.
»Hallo, Heidi.«
Sie blickte in Brian Shaws Gesicht und war zu fassungslos, um ein einziges Wort hervorzubringen.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er leise, »aber ich muß mit dir sprechen.«
Ihre Überraschung verwandelte sich in Wut. »Aus welchem Loch bist du gekrochen?«
Er sah die Zornesröte in ihrem Gesicht. »Ich kann nicht leugnen, daß es eine kalt berechnete Verführung war. Und das tut mir sehr leid.«
»Ach ja, die heilige Pflicht«, sagte sie verächtlich. »Man geht mit einer Frau ins Bett, quetscht Informationen aus ihr heraus, die man dann benutzt, um zwölf unschuldige Menschen zu ermorden. Für mich sind Sie ein stinkendes Schwein, Mr. Shaw.«
Er schwieg eine Weile. Amerikanerinnen haben eine ganz eigene Art, sich auszudrücken, stellte er fest. Ganz anders als die Engländerinnen. »Eine bedauerliche und völlig sinnlose Tragödie«, sagte er. »Ich wollte dir und besonders auc h Dirk Pitt nur versichern, daß ich für diese Ereignisse nicht verantwortlich war.«
»Du lügst nicht zum ersten Mal. Warum sollte ich dir glauben?«
»Pitt wird mir glauben, wenn du ihm sagst, es sei Foss Gly gewesen, der die Sprengladung explodieren ließ.«
»Foss Gly?«
»Pitt kennt den Namen.«
Sie blickte ihn skeptisch an. »Du hättest dich auch am Telefon rechtfertigen können. Warum bist du eigentlich hier? Um weitere Informationen aus mir herauszupumpen? Um zu erfahren, ob wir das Vertragsexemplar auf der
Empress of Ireland
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