Um Haaresbreite
»So verdammt wirklich.«
»Weil wir die Szene genauso wiederholt haben, wie sie sich neunzehnhundertvierzehn abspielte«, sagte Pitt.
Magee starrte Pitt an. »Aber damals war es der wirkliche
Manhattan Limited.
«
Pitt schüttelte den Kopf. »Den gab es damals auch nicht.«
»Da irren Sie sich. Harding und Meecham sahen ihn.«
»Es war ein Trick«, sagte Pitt ruhig.
»Ausgeschlossen…« Magee unterbrach sich, blickte verständnislos drein. »Das kann doch nicht sein… sie waren erfahrene Eisenbahner… sie wären nicht auf einen Trick hereingefallen.«
»Meecham lag verwundet auf dem Boden. Die Tür war geschlossen. Harding kniete vor dem Safe, mit dem Rücken zum Bahnsteig. Alles, was sie sahen, waren Lichter. Alles, was sie hörten, waren Geräusche. Geräusche einer alten Grammophonaufnahme eines vorüberfahrenden Zugs.«
»Aber die Brücke… sie stürzte unter dem Gewicht des Zuges ein. Das konnte keine Täuschung sein.«
»Massey sprengte die Brücke stückweise. Er wußte, daß ein großer Knall die ganze Gegend alarmiert hätte. Deshalb brachte er kleine Ladungen Schwarzpulver an Schlüsselpunkten der Struktur zur Explosion, jeweils wenn es gleichzeitig stark donnerte, bis die Mittelspanne schließlich nachgab und in den Fluß stürzte.«
Magee war sprachlos.
»Der Raubüberfall im Bahnhof war nur ein Ablenkungsmanöver. Massey hatte eine größere Beute im Sinn als lumpige achtzehn Dollar. Er hatte es auf einen Goldtransport im Werte von zwei Millionen Dollar abgesehen, der an den
Manhattan Limited
gekoppelt war.«
»Warum dann all die Mühe?« fragte Magee zweifelnd. »Er konnte doch einfach den Zug stoppen, ihn ausrauben und mit dem Gold verschwinden.«
»So hätte Hollywood es vielleicht gefilmt«, sagte Pitt. »Aber im wahren Leben ist es nie so einfach. Es handelte sich um Zwanzigdollargoldmünzen vom Typ St. Gaudens. Jede von ihnen wog etwa dreißig Gramm. Eine simple Rechnung ergibt hunderttausend Münzen für zwei Millionen Dollar. Jetzt runden Sie sechzehn Münzen zu einem Pfund ab, und dann kommen Sie auf ein Gesamtgewicht von über drei Tonnen. Das können nicht ein paar Leute ausladen und wegschleppen, bevor die Eisenbahnbehörden sich über die Verspätung beunruhigen und eine Suchmannschaft schicken.«
»Mag sein«, sagte Giordino. »Aber dann bleibt immer noch die Frage, die wir uns alle stellen müssen: Falls der Zug hier nicht vorbeigekommen und in den Hudson gestürzt ist, wohin ist er denn sonst gefahren?«
»Ich glaube, daß Massey die Lokomotive übernommen hat, den Zug von der Hauptstrecke abzweigte und ihn dort versteckte, wo er bis heute ist.«
Hätte Pitt behauptet, ein Venusbewohner oder eine Wiedergeburt Napoleons zu sein, so wären seine Worte nicht mit größerem Unglauben aufgenommen worden. Magee machte ein skeptisches Gesicht. Nur Annie blickte nachdenklich drein.
»In gewisser Beziehung ist Mr. Pitts Theorie gar nicht so abwegig, wie sie auf Anhieb klingt«, sagte sie.
Magee starrte sie an, als sei sie kindisch geworden. »Und kein einziger Passagier oder Eisenbahner hätte überlebt, um die Geschichte zu erzählen? Kein Räuber hätte es auf dem Totenbett gestanden? Keine einzige Leiche wäre gefunden worden? Nicht die geringste Spur eines gesamten Eisenbahnzugs wäre in all den Jahren ans Licht gekommen? Nein, das ist ausgeschlossen.«
»Das wäre das größte Zauberkunststück aller Zeiten«, fügte Chase hinzu.
Pitt schien dem Gespräch nicht zuzuhören. Er wandte sich plötzlich an Magee. »Wie weit ist es von hier nach Albany?«
»Etwa vierzig Kilometer. Warum fragen Sie?«
»Der
Manhattan Limited
wurde zum letzten Mal gesehen, als er den Bahnhof von Albany verließ.«
»Aber Sie glauben doch nicht etwa…«
»Man glaubt, was man glauben will«, unterbrach ihn Pitt. »Die einen glauben an Mythen, Gespenster, Religion und das Übernatürliche. Ich glaube, daß es sich um eine ganz harte und materielle Tatsache handelt. Der Zug lag ganz einfach während eines Dreivierteljahrhunderts an einem Ort versteckt, wo niemand ihn gesucht hat.«
Magee seufzte. »Und was haben Sie vor?«
Pitt schien überrascht von dieser Frage. »Ich werde jeden Zentimeter des verlassenen Bahndamms von hier bis nach Albany genau untersuchen«, sagte er entschlossen, »bis ich die Überreste einer alten Schienenspur finde, die ins Nichts führt.«
72
Das Telefon klingelte um Viertel nach elf Uhr abends.
Sandecker legte seine Bettlektüre beiseite und nahm den Hörer
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