Um Haaresbreite
älterer Cadillac Brougham, eines der letzten großen Modelle.
Auf beiden lag eine dünne Staubschicht.
Das Innere des Cadillacs war makellos, und der Tachometer zeigte nur 6400 Meilen an. Beide Wagen sahen wie neu aus, sogar die Unterseiten der Kotflügel waren von allem Schmutz gesäubert. Pitt hatte begonnen, in Essex’ Welt einzudringen.
Nach der liebevollen Pflege zu urteilen, die der ehemalige Gesandte seinen Autos angedeihen ließ, war er ein sehr genauer und ordentlicher Mann.
Pitt schloß die Garagentür und wandte sich dem Hause zu. Der Sohn der Frau hatte recht gehabt. Kleine weiße Wolken drangen aus dem Kamin auf dem Dach und verloren sich im Nachthimmel. Er trat auf die Außenveranda, fand den Klingelknopf und drückte ihn. Keine Antwort, keine Bewegung hinter den Fenstern mit den geöffneten Vorhängen. Dann versuchte er die Tür. Sie öffnete sich.
Pitt war überrascht. Eine unverschlossene Tür paßte nicht in das Bild, und auch nicht der scheußliche und faulige Gestank, der ihm über die Schwelle in die Nase drang.
Er trat ein, ließ die Tür hinter sich offen. Dann tastete er nach einem Lichtschalter und knipste ihn an. Das Vestibül war leer, wie auch das anschließende Speisezimmer. Er bewegte sich rasch durch das Haus, begann bei den oberen Schlafzimmern.
Der schreckliche Gestank schien allgegenwärtig zu sein, ließ sich nicht auf einen bestimmten Ort zurückführen. Er ging wieder nach unten, sah sich den Salon und die Küche an, warf einen kurzen Blick auf die Möbel, bevor er weiterging. Fast hätte er das Arbeitszimmer verpaßt, weil er die geschlossene Tür für einen Schrank hielt.
John Essex saß in einem Polstersessel, mit offenhängendem Mund, den Kopf zur Seite gebeugt, die Brille grotesk an einem verwitterten Ohr hängend. Seine einst leuchtenden blauen Augen waren eingefallen und in den Schädel gesunken. Die Verwesung war erschreckend rasch eingetreten, weil der Thermostat im Zimmer auf dreiundzwanzig Grad Celsius eingestellt war. So hatte er hier einen Monat lang gesessen, seltsamerweise unentdeckt, gestorben – wie der Gerichtsmediziner feststellen würde an einem Bluterguß in der Herzschlagader.
Pitt konnte die Zeichen lesen. Während der ersten zwei Wochen hatte der Körper sich grün verfärbt, war aufgedunsen, hatte die Knöpfe am Hemd aufgerissen. Nachdem dann die innere Flüssigkeit ausgelaufen und verdampft war, war die Leiche zusammengeschrumpft und ausgetrocknet, wobei die Haut die Konsistenz gegerbten Leders angenommen hatte.
Schweißtropfen rannen Pitt über die Stirn. Die muffige Hitze des Zimmers und der Gestank bereiteten ihm Übelkeit. Er hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, kämpfte gegen einen Brechreiz an und kniete sich vor die Leiche John Essex’.
Ein Buch lag auf seinem Schoß, und eine klauenhafte Hand hatte sich auf dem gravierten Deckel verkrampft. Pitt lief es kalt über den Rücken. Er hatte schon oft Tote von na hem gesehen, und seine Reaktion war immer die gleiche gewesen: Ein Gefühl des Ekels, das langsam der erschreckenden Erkenntnis wich, daß auch er eines Tages so aussehen würde wie dieser verfaulende Mann im Sessel.
Zögernd, als ob er befürchtete, Essex könnte zum Leben erwachen, löste er das Buch aus der Hand. Dann knipste er eine Schreibtischlampe an und blätterte in den Seiten. Es sah wie eine Art von persönlichem Tagebuch aus. Pitt schlug die Titelseite auf. Die Worte schienen sich aus dem vergilbten Papier zu erheben.
Persönliche Beobachtungen von Richard C. Essex April 1914
Pitt setzte sich an den Schreibtisch und begann zu lesen. Nach etwa einer Stunde hielt er inne, blickte auf die Überreste John Essex’, und sein Ausdruck von Ekel war dem des Mitleids gewichen.
»Du armer alter Narr«, sagte er mit traurigem Gesicht.
Dann schaltete er das Licht aus und ging, ließ den ehemaligen amerikanischen Gesandten in England wieder allein in seinem dunklen Zimmer.
27
Die Luft war von Schießpulvergeruch geschwängert, als Pitt sich hinter eine Reihe begeisterter Schützen auf einem Schießplatz außerhalb von Fredericksburg in Virginia stellte.
Vor ihm saß ein kahlköpfiger Mann über eine Bank gebeugt und blickte gespannt durch das Eisenvisier eines Flintenlaufs von ein Meter fünfzehn Länge.
Joe Epstein, Kolumnist bei der
Baltimore Sun
während der Arbeitsstunden und fanatischer Schrotflintenschütze am Wochenende, drückte sanft auf den Abzug. Der Schuß knallte scharf, gefolgt von einer kleinen schwarzen
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