Um Haaresbreite
»Beide kamen am gleichen Tag um, am achtundzwanzigsten Mai neunzehnhundertvierzehn, und keine der beiden Leichen wurde je geborgen.«
»Großartig.« Pitt seufzte. »Ich hatte zwar nicht erwartet, daß es Informationen regnen würde… aber daß kein einziger Tropfen fällt…«
»Das war damals immer so.«
»Immerhin scheint es seltsam, daß Essex und Shields fast zur gleichen Zeit umgekommen sind. Kann da nicht eine Verschwörung im Spiel gewesen sein?«
Epstein schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert. Außerdem, warum sollte man ein Schiff versenken und tausend Menschen umbringen, wo es doch einfacher gewesen wäre, Shields irgendwo in der Mitte des Ozeans über Bord zu werfen?«
»Da hast du natürlich recht.«
»Willst du mir nicht sagen, worum es hier eigentlich geht?«
»Ich bin mir selbst noch gar nicht sicher, wo das alles hinführen wird.«
»Hoffentlich läßt du es mich wissen, falls es sich für die Zeitung eignet.«
»Es ist noch zu früh, es an die Öffentlichkeit zu bringen.
Vielleicht ist es nichts.«
»Ich kenne dich zu lange, Dirk. Du beschäftigst dich nicht mit etwas, was nichts ergibt.«
»Sagen wir einfach, ich interessiere mich für historische Rätsel.«
»In dem Fall hätte ich noch eins für dich.«
»Erzähle.«
»Der Fluß unter der Brücke wurde einen ganzen Monat lang durchsucht. Man hat trotz aller Bemühungen nicht eine einzige Leiche gefunden.«
Pitt blieb stehen und starrte Epstein an. »Das nehme ich dir nicht ab. Es ist völlig ausgeschlossen, daß nicht einige Leichen flußabwärts geschwemmt wurden und irgendwo am Ufer an Land trieben.«
»Ich habe dir nur die Hälfte erzählt«, sagte Epstein mit pfiffiger Miene. »Den Zug hat man auch nicht gefunden.«
»Donnerwetter!«
»Aus beruflicher Neugier habe ich alles über den
Manhattan Limited
– so hieß der Zug – nachgelesen. Wochenlang nach der Tragödie wurden Taucher ausgeschickt, und sie fanden nichts.
Die Lokomotive und alle Wagen wurden als im Schwemmsand versunken abgeschrieben. Die Direktoren der
New York & Quebec Northern Railroad
haben ein Vermögen ausgegeben, um auch nur eine Spur ihres Elitezugs zu entdecken. Alles war vergebens, und sie haben es schließlich aufgegeben. Kurze Zeit später wurde die Strecke von der
New York Central
übernommen.«
»Und das war das Ende der Geschichte.«
»Nicht ganz«, sagte Epstein. »Es wird behauptet, daß der
Manhattan Limited immer
noch Geisterfahrten macht.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Ehrenwort. Einwohner im Hudson River Valley schwören, einen Geisterzug gesehen zu haben, der von der Küste kommt, die Steigung zur alten Brücke hinaufdonnert und dann verschwindet. Natürlich sieht man diese Erscheinung nur nachts.«
»Natürlich«, erwiderte Pitt sarkastisch. »Du hast den Vollmond und das Heulen der bösen Feen vergessen.«
Epstein lachte. »Ich dachte, dir würde die Gruselgeschichte gefallen.«
»Hast du Abschriften von alledem?«
»Klar. Du wirst sie sicher haben wollen. Da sind fünf Pfund Material über den Untergang der
Empress
und die Untersuchung nach der Eisenbahnkatastrophe im Hudson River. Ich habe auch die Namen und Adressen einiger Leute notiert, deren Hobby es ist, Schiffs- und Eisenbahnunglücken früherer Zeiten nachzugehen. Es ist alles säuberlich in einem Umschlag verpackt, der in meinem Wagen liegt.« Epstein wies auf den Parkplatz des Schießstands. »Ich hole es dir.«
»Ich weiß es zu schätzen, daß du dir all die Zeit und Mühe genommen hast«, sagte Pitt.
Epstein blickte ihn lange an. »Eine Frage, Dirk, das schuldest du mir.«
»Ja, das schulde ich dir«, stimmte Pitt zu.
»Tust du das für die NUMA oder für dich selbst?«
»Eine rein persönliche Angelegenheit.«
»Ich verstehe.« Epstein schaute zu Boden und stieß mit dem Fuß einen Stein beiseite.
»Wußtest du, daß ein Nachkomme von Richard Essex kürzlich tot aufgefunden wurde?«
»John Essex? Ja, das weiß ich.«
»Einer unserer Reporter ist der Geschichte nachgegangen.«
Epstein hielt inne und nickte in die Richtung, wo Pitts Cobra stand. »Ein Mann, der dir ziemlich ähnlich sein muß, einen roten Sportwagen fuhr und sich nach dem Essexschen Hause erkundigte, wurde von einer Nachbarin gesehen, eine Stunde bevor ein anonymer Telefonanruf die Polizei über Essex’ Tod informierte.«
»Reiner Zufall.« Pitt zuckte die Schulter.
»Reiner Zufall? Daß ich nicht lache! Was, zum Teufel,
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