Um Haaresbreite
dem tiefen Wasser.
Seine Träumereien wurden von einem Geräusch unterbrochen, das wie ein hohes Heulen aus der Ferne zu ihm drang.
Er wandte sich um und lauschte. Zuerst hörte er nur das Rauschen des Windes. Dann kam es wieder von irgendwo im Norden, echote und hallte wider von den Klippen längs des Hudsons, den nackten Baumstämmen, den dunklen Hügeln des Tals.
Es war das Pfeifen einer Lokomotive.
Er sah ein schwaches, anschwellendes gelbes Glühen, das immer näher kam. Bald vernahm er weitere Geräusche, ein knirschendes Klappern und das Zischen von Dampf. Vögel, aufgeschreckt von dem plötzlichen Lärm, flatterten in den schwarzen Himmel auf.
Pitt vermochte nicht zu fassen, daß es Wirklichkeit sein könnte, was er dem Anschein nach sah. Es war unmöglich, daß ein Zug über die nichtexistenten Schienen des verwahrlosten Bahndamms raste. Er stand da, fühlte die Kälte nicht mehr, suchte nach einer Erklärung, traute seinen Sinnen nicht, aber das schrille Pfeifen wurde immer lauter und das Licht heller.
Während zehn, vielleicht zwanzig Sekunden war Pitt wie versteinert. Er begann das Wirklichkeitsbewußtsein zu verlieren, Panik befiel ihn.
Wieder gellte der schrille Pfiff durch die dunkle Nacht, als die Schreckensvision um die Kurve raste, den Hang zur eingestürzten Brücke empordonnerte, das grelle Scheinwerferlicht ihm die Augen blendete.
Erstarrt und benommen sah Pitt, was nach menschlichem Ermessen nur eine höllische Erscheinung sein konnte. Dann meldete sich sein Selbsterhaltungstrieb, und er blickte sich nach einem Fluchtweg um. Die steilen Hänge des Bahndamms führten ins Schwarze; hinter ihm war der Fluß.
Es gab kein Entkommen.
Die gespenstische Lokomotive kam immer näher, und jetzt hörte er auch ihre Glocke.
Dann verwandelte sich seine Angst plötzlich in Wut. Wut über seine Hilflosigkeit und sein zu langsames Reaktionsvermögen.
Der Augenblick, in dem er seinen Entschluß faßte, schien wie eine Ewigkeit. Es gab nur noch einen Ausweg, und für den entschied er sich. Wie ein Läufer beim Startschuß rannte er geradewegs auf den Zug zu.
31
Das blendende Licht verlosch plötzlich, und der Lärm verklang in der Nacht.
Pitt blieb stehen, rührte sich nicht, verstand überhaupt nichts mehr, bemühte sich, seine Augen wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er neigte den Kopf, lauschte. Kein Geräusch war zu hören, nur das Rauschen des Nordwinds. Er wurde sich seiner halberfrorenen Hände bewußt, und sein Herz pochte laut.
Zwei volle Minuten verstrichen, und nichts geschah. Pitt ging langsam den Bahndamm hinunter, blieb alle paar Minuten stehen, blickte auf den Schnee. Außer seinen Fußspuren in der entgegengesetzten Richtung sah er nichts.
Verwirrt lief er eine halbe Meile weiter, stapfte müde durch den Schnee, erwartete und zweifelte zugleich, eine Spur des Gespensterzuges zu entdecken. Nichts war zu sehen. Es war, als hätte es den Zug nie gegeben. Er stolperte über einen harten Gegenstand und stürzte.
Während er über seine Ungeschicklichkeit fluchte, fuhr er mit beiden Händen über den Boden, um sich aufzustützen, und bekam zwei parallel laufende kalte Metallstränge zu fassen.
Mein Gott, es sind Schienen.
Er rappelte sich auf die Beine und ging weiter. Nach einer scharfen Kurve sah er den blauen Flimmerschein eines Fernsehapparates im Fenster eines Hauses. Die Gleise schienen an der Eingangstür vorbeizulaufen.
Ein Hund bellte, und gleich darauf fiel ein Lichtschein aus der geöffneten Tür. Pitt verbarg sich im Dunkel. Ein riesiger zottiger Schäferhund sprang über die Schwellen, schnupperte in der kalten Luft, hielt sich nicht lange auf, hob das Hinterbein und machte sein Geschäft, um dann gleich wieder ins warme Haus zu laufen. Die Tür schloß sich wieder.
Als Pitt näher kam, erblickte er eine riesige schwarze Form auf einem Nebengleis. Es war eine Lokomotive mit Tender und einem angekoppelten Packwagen. Behutsam kletterte er in die Kabine und berührte den Feuerofen. Das Metall war eiskalt. Pitt fühlte Rost auf den Fingern – der Ofen war seit langem nicht mehr geheizt worden.
Er ging über die Schienen zum Haus und klopfte an die Tür.
Der Hund bellte pflichtgemäß eine Weile, und dann trat ein Mann in einem zerknitterten Bademantel auf die Schwelle. Er hatte das Licht im Rücken, und sein Gesicht war im Schatten. Er war fast so breit wie die Tür und bewegte sich wie ein Ringkämpfer.
»Was wünschen Sie?« fragte er mit tiefer
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