Um Haaresbreite
Es ist fast ein Verbrechen, daß das Schiff so in Vergessenheit geriet.«
»Sie haben es nicht vergessen.«
»Und die Provinz Quebec auch nic ht«, sagte Le Mat und zeigte nach Osten. »Dort hinter Pointe au Père oder Vaterpunkt, wie Sie auf Englisch sagen würden, liegen achtundachtzig nichtidentifizierte Opfer der Tragödie auf einem kleinen Friedhof, der immer noch unter der Obhut der
Canadian Pacific Railroad
steht.« Ein kummervoller Ausdruck trat in Le Mats Augen. Er sprach von der Tragödie, als hätte sie sich erst gestern ereignet. »Auch die Heilsarmee erinnert sich. Von den hunderteinundsiebzig Salutisten, die zu einem Kongreß nach London fahren wollten, haben nur sechsundzwanzig überlebt.
Die Heilsarmee hält an jedem Jahrestag der Katastrophe einen Gedenkgottesdienst auf dem Mount-Pleasant-Friedhof in Toronto ab.«
»Mir wurde erzählt, Sie haben sich die
Empress
zu einer Lebensaufgabe gemacht.«
»Ich hege eine tiefe Leidenschaft für die
Empress.
Es ist wie eine große Liebe, die manche Männer überwältigt, wenn sie das Gemälde einer Frau sehen, die schon längst tot war, als sie geboren wurden.«
»Ich ziehe die Wirklichkeit der Phantasie vor«, sagte Pitt.
»Manchmal ist die Phantasie lohnender«, erwiderte Le Mat mit verträumtem Gesicht. Plötzlich wurde er hellwach, schwang das Steuer herum, um einer Eisscholle auszuweichen.
»Zwischen Juni und September, wenn das Wetter warm ist, tauche ich zwanzig- bis dreißigmal, um mir das Wrack anzuschauen.«
»In welchem Zustand ist die
Empress?«
»Die natürlichen Zerfallserscheinungen. Allerdings nicht so schlimm, wie Sie denken könnten, nach den fünfundsiebzig Jahren. Wahrscheinlich deshalb, weil das Süßwasser des Flusses die Salzhaltigkeit des östlichen Meeres stark vermindert. Der Rumpf liegt auf der Steuerbordseite in einem Winkel von fünfundvierzig Grad. Einige der oberen Schotten sind eingebrochen, aber sonst ist das Schiff noch in ganz gutem Zustand.«
»Wie tief liegt es?«
»Etwa fünfzig Meter. Ein bißchen tief, um mit einem Preßlufttank zu tauchen, aber ich schaffe es.« Le Mat stellte den Motor ab und ließ das Boot mit der Strömung treiben. Dann wandte er sich Pitt zu. »Nun sagen Sie mir, Mr. Pitt, welches Interesse Sie an der
Empress
haben. Warum sind Sie zu mir gekommen?«
»Ich suche Informationen über einen Passagier namens Harvey Shields, der mit dem Schiff untergegangen ist. Und man sagte mir, daß niemand besser über die
Empress
Bescheid weiß, als Jules Le Mat.«
Le Mat überlegte eine Weile, und dann sagte er: »Ja, ich erinnere mich, daß ein Harvey Shields unter den Opfern war.
Von den Überlebenden wurde er nie erwähnt. Ich muß annehmen, daß er einer der fast siebenhundert Menschen ist, die da unten begraben liege n.«
»Vielleicht wurde seine Leiche geborgen und nicht identifiziert, wie jene, die auf dem Friedhof von Pointe au Père beerdigt wurden.«
Le Mat schüttelte den Kopf. »Das waren meist Drittklaßpassagiere. Shields war ein britischer Diplomat, eine wichtige Persönlichkeit. Seine Leiche hätte man erkannt.«
Pitt stellte seine Teetasse auf den Tisch. »Dann endet meine Suche hier.«
»Nein, Mr. Pitt«, sagte Le Mat. »Nicht hier.«
Pitt blickte ihn schweigend an.
»Dort unten«, fuhr Le Mat fort und zeigte zu Boden. »Die
Empress of Ireland
liegt unter uns.« Er nickte aus dem Kajütenfenster. »Dort schwimmt ihre Boje.«
Pitt sah sie, etwa fünfzehn Meter von der Backbordseite entfernt, sie war orangefarben und wiegte sich sanft auf der eisigen Wasseroberfläche. Ihr Seil erstreckte sich durch die dunklen Fluten bis zu dem Wrack am Flußboden.
30
Pitt bog mit seinem gemieteten Mini von der Autobahn ab und nahm die schmale gepflasterte Straße, die am Hudson entlangführte. Es war kurz nach Sonnenuntergang. Er kam an einem Gedenkstein für irgendeinen Kriegsschauplatz der Revolution vorbei, war versucht, anzuhalten und sich die Beine zu vertreten, entschloß sich jedoch dann, weiterzufahren, um sein Ziel vor der Dunkelheit zu erreichen. Die Flußlandschaft war herrlich im Abendlicht, und auf den Feldern, die sich bis zum Ufer erstreckten, leuchtete eine spätwinterliche Schneedecke.
Pitt hielt an einer kleinen Tankstelle unterhalb der Stadt Coxsackie. Der Tankwart, ein älterer Mann in verblichenem Overall, blieb in seinem Büro, die Füße auf einen Metallschemel gestützt, vor einem Holzofen. Pitt bediente sich selbst und trat dann ein. Der Tankwart blickte an ihm vorbei
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