Um Haaresbreite
sich, daß der Zug nie gefunden wurde?«
Magee schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich versank er im Treibsand. Vor einigen Jahren hat man eine Meile stromabwärts einen alten Lokomotivscheinwerfer gefunden. Es wird allgemein angenommen, daß er vom
Manhattan Limited
stammt. Meiner Meinung nach ist es nur eine Zeitfrage, bis das Flußbett sich verschiebt und die Trümmer freigibt.«
»Noch etwas Torte, Mr. Pitt?« fragte Annie.
»Die Versuchung ist groß, aber lieber nicht«, sagte Pitt und erhob sich. »Ich muß jetzt gehen. In ein paar Stunden geht mein Flug vom Kennedy Airport. Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft.«
»Bevor Sie gehen«, sagte Magee, »möchte ich Ihnen noch etwas zeigen.«
Der Bildhauer wuchtete sich aus seinem Sessel und ging auf eine Tür in der Mitte der gegenüberliegenden Wand zu. Er öffnete sie und verschwand in einem dunklen Raum. Einen Augenblick später kam er wieder heraus und hielt eine flackernde Öllampe in der Hand.
»Hier hinein«, sagte er und zeigte den Weg.
Pitt trat ein, nahm zuerst den modrigen Geruch von altem Holz, Leder und Öldampf wahr, dann schattenhafte Umrisse, die sich im schwachen Lampenlicht hervorzuheben begannen.
Der Raum war ein mit alten Gegenständen möbliertes Büro.
Ein gußeiserner Ofen, dessen Rohr zum Dach ging, stand mitten im Zimmer. In einer Ecke erkannte Pitt einen Safe, dessen Tür mit dem Bild eines durch die Prärie fahrenden Planwagens geschmückt war.
Zwei Pulte an der Fensterwand. Das eine mit Rollfach, darüber ein altmodisches Telefon, das andere lang und flach mit einem großen Fächerregal. Auf der Seite, vor einem mit Leder überzogenen Kippstuhl, ein Telegrafenschlüssel, dessen Drähte durch die Decke gingen.
An den Wänden eine Seth-Thomas-Uhr, ein Plakat des Reisezirkus Parker und Schmidt, ein gerahmtes Bild eines vollbusigen Mädchens, das ein Tablett mit Bierflaschen kredenzte, eine Reklame der Ruppert-Brauerei der 94. Straße in New York City, und ein Kalender der Versicherungsgesellschaft Feeney & Co. mit dem Datum Mai 1914.
»Sam Hardings Büro«, verkündete Magee mit Stolz. »Ich habe es genauso wiederhergestellt, wie es in der Nacht des Raubüberfalls war.«
»Dann ist Ihr Haus…«
»Der ehemalige Bahnhof von Wacketshire«, erklärte Magee.
»Der Bauer, von dem ich das Haus erwarb, benutzte es als Stall für seine Kühe. Annie und ich haben das Gebäude wieder instand gesetzt. Schade, daß Sie es nicht bei Tageslicht gesehen haben. Die Architektur ist recht originell. Schmuckvolle Verzierungen um das Dach herum, anmutige Linien. Wurde um achtzehnhundertachtzig erbaut.«
»Sie haben eine bemerkenswerte Arbeit geleistet«, beglückwünschte ihn Pitt.
»Ja, den meisten alten Bahnhöfen ist es nicht so gut ergangen«, sagte Magee. »Wir haben ein paar Veränderungen vorgenommen. Was früher der Güterschuppen war, sind jetzt unsere Schlafzimmer, und unser Wohnzimmer ist der ehemalige Wartesaal.«
»Ist die Einrichtung original?« fragte Pitt und berührte den Telegrafenschlüssel.
»Im großen und ganzen, ja. Hardings Pult war hier, als wir das Haus kauften. Den Ofen fanden wir auf einem Müllhaufen, und Annie rettete den Geldschrank aus einem Eisenwarenladen in Selkirk. Aber das wertvollste Stück ist das hier.«
Magee nahm einen ledernen Staubüberzug ab, unter dem sich ein Schachbrett verbarg. Die handgeschnitzten Figuren aus Birke und Ebenholz waren abgenutzt und brüchig. »Hiram Meechums Schachspiel«, erklärte Magee. »Seine Witwe schenkte es mir. Der Kugeleinschlag von Masseys Pistole wurde nie ausgebessert.«
Pitt betrachtete es schweigend. Dann ging er ans Fenster und blickte ins Dunkel hinaus. »Man spürt fast ihre Gegenwart«, sagte er schließlich.
»Ich sitze hier oft allein und versuche, mir die schicksalhafte Nacht vorzustellen.«
»Sehen Sie den
Manhattan Limited,
wie er vorbeidonnert?«
»Manchmal«, sagte Magee verträumt. »Wenn ich meiner Phantasie freien Lauf lasse…« Er hielt inne und blickte Pitt argwöhnisch an. »Eine seltsame Frage. Wie kommen Sie darauf?«
»Der Geisterzug«, antwortete Pitt. »Man behauptet, er macht immer noch seine Gespensterfahrten.«
»Das Hudson Valley ist ein wahrer Nährboden für Mythen«, entgegnete Magee verächtlich.
»Es gibt sogar Leute, die den Reiter ohne Kopf gesehen haben wollen. Was als pure Flunkerei beginnt, wird zu einem Gerücht.
Dann wird es mit den Jahren ausgeschmückt, vom Volksglauben übertrieben und wächst sich zu einer
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