Um Haaresbreite
Gesichtsveränderung hatte den ersten Test bestanden. »Ich war bei Freunden in Quebec zu Besuch und wollte noch einmal vorbeikommen, um Monsieur Guerrier meine Aufwartung zu machen. Wie ich höre, fühlt er sich nicht wohl.«
»Ein Grippeanfall«, sagte der Chauffeur und nahm Gly den Mantel ab. »Das Schlimmste ist vorüber. Die Temperatur ist heruntergegangen, aber es wird noch eine Weile dauern, bis er wieder fit ist.«
»Vielleicht ist ihm nicht danach, so späten Besuch zu empfangen. Ich kann ja morgen noch einmal vorbeikommen.«
»Nein, ich bitte Sie. Der Herr Premierminister schaut sich das Fernsehen an. Ich weiß, daß er sich freuen wird, Sie zu sehen.
Ich führe Sie auf sein Zimmer.«
Gly winkte ab. »Ist nicht nötig. Ich kenne den Weg.«
Er ging die große runde Treppe bis zum ersten Stock hinauf.
Oben blieb er stehen, um sich zu orientieren. Er hatte sich den Plan des gesamten Hauses eingeprägt, insbesondere alle Ausgänge, die ihm gegebenenfalls einen Fluchtweg bieten konnten. Guerriers Schlafzimmer war, wie er wußte, die dritte Tür rechts. Er trat leise ein, ohne anzuklopfen.
Jules Guerrier lag in einem großen Polstersessel, die Füße mit den Pantoffeln auf einer Ottomane, und schaute sich ein Fernsehprogramm an. Er trug einen seidenen Schlafrock mit persischem Muster. Er hatte Gly nicht kommen gehört, und er saß mit dem Rücken zur Tür.
Gly schlich sich lautlos über den Teppich zum Bett. Er nahm ein großes Kissen und trat von hinten an Guerrier heran. Er hob das Kissen, wollte es Guerrier vor das Gesicht drücken, aber dann zögerte er.
Er muß mich sehen, sagte sich Gly. Diese Befriedigung brauchte er. Er mußte sich beweisen, daß er wirklich Henri Villon werden konnte. Guerrier schien seine Gegenwart zu spüren. Er drehte sich langsam um, blickte Gly an, und seine Augen weiteten sich, nicht aus Angst, sondern vor Erstaunen.
»Henri?«
»Ja, Jules.«
»Du kannst doch nicht hier sein«, sagte Guerrier verblüfft.
Gly ging um den Fernsehapparat herum, stellte sich dem Premierminister gegenüber. »Aber ich bin hier, Jules. Ich bin hier im Fernseher.«
Und so war es auch.
Das Bild Henri Villons erstrahlte auf dem Bildschirm. Er hielt eine Ansprache bei der Eröffnung des neuen Bühnenkunstzentrums in Ottawa. Danielle Sarveux saß hinter ihm, und neben ihr Villons Frau.
Guerrier verstand überhaupt nichts mehr. Was er da sah, überstieg sein Begriffsvermögen. Es war eine Direktübertragung, daran gab es keinen Zweifel. Er hatte sogar eine Einladung erhalten und erinnerte sich genau an den geplanten Ablauf der Zeremonie. Villons Ansprache war für jetzt angesetzt. Er starrte Gly mit offenem Munde an.
»Wie ist das möglich…?«
Gly antwortete nicht. Er sprang auf den Sessel zu und preßte Guerrier das Kissen ins Gesicht.
Der Schreckensschrei erstickte zu einem gedämpften tierischen Laut. Dem Premierminister fehlte die Kraft zu diesem ungleichen Kampf. Seine Hände faßten Glys dicke Handknöchel und machten einen schwachen Versuch, sie wegzuziehen. Ein brennender Schmerz durchdrang seine Lungen wie ein Feuerball.
Dreißig Sekunden später lösten die Hände ihren Griff, fielen und hingen leblos über die Sessellehne. Der Körper sackte zusammen, aber Gly ließ nicht nach, drückte noch drei volle Minuten lang. Dann schaltete er den Fernseher aus, beugte sich nieder, hielt das Ohr an Guerriers Brust. Kein Lebenszeichen mehr. Der Premierminister von Quebec war tot.
Gly ging rasch durch das Zimmer, bückte in den Flur hinaus.
Leer. Er kehrte zu Guerrier zurück, nahm das Kissen, warf es wieder aufs Bett. Den Schlafrock zog er ihm sehr behutsam aus, achtete darauf, daß der Stoff nicht riß, legte ihn dann über die Rückenlehne des Sessels.
Er stellte zufrieden fest, daß der Premierminister sich nicht benäßt hatte. Jetzt kamen die Pantoffeln. Er warf sie lässig vor das Bett.
Gly fühlte keinen Ekel, nicht die leiseste Spur eines Widerwillens, als er die Leiche auf das Bett legte. Dann sperrte er ihr den Mund auf, um eine Untersuchung vorzunehmen.
Falls ein Gerichtsmediziner Verdacht schöpfen sollte, daß Guerrier erstickt worden sei, würde er sich zuallererst die Zunge ansehen. Guerrier hatte sich gut verhalten; keine Bißwunden auf der Zunge.
Allerdings wies die Mundhöhle einige kleine Schürfwunden auf. Gly zog eine kleine Schminkschachtel aus der Tasche und wählte einen weichen rosa Fettstift. Er konnte die Entfärbungen nicht völlig beseitigen, aber er
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