Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Gäfgen strahlte eine derartige Kälte aus, dass ich automatisch mit meinem Stuhl etwas nach hinten rückte. Daraufhin konfrontierte ich Gäfgen mit seiner Lügengeschichte, in der er die beiden Brüder zu Unrecht der Teilnahme an der Entführung bezichtigt hatte.
Ich klärte ihn über den Fund eines Kinderschlafsackes mit Blutspuren am Langener Waldsee auf und teilte ihm unsere Befürchtung mit, dass Jakob in höchster Lebensgefahr schwebe.
»Es ist in deinem eigenen Interesse, wenn du endlich sagst, wo der Junge versteckt ist. Ich will jetzt endlich wissen, was mit dem Jungen ist!« Ich kämpfte um eine überlegte, ruhige Stimme.
Gäfgen schaute weg in Richtung Tür.
»Wo ist der Junge, was ist mit dem Jungen?«
Er vermied jeglichen Blickkontakt und schwieg weiter. Ich sagte ihm, pass auf, es ist veranlasst worden, dass jemand kommt, der dir Schmerzen zufügen kann. Er wird mit einem Hubschrauber eingeflogen. Ich habe ihm auch gesagt, dass die Besorgung eines Wahrheitsserums veranlasst sei. Ich erklärte ihm eindringlich, dass wir wissen müssten, wo der Junge ist.
Gäfgen zeigte sich völlig unbeeindruckt. Als Jurastudent mit bestandener schriftlicher Prüfung zum Ersten Staatsexamen, hielt er die Überlegungen der Behördenleitung wohl nicht für glaubhaft und schien eiskalt berechnend abwarten zu wollen, ob irgendetwas davon je realisiert werden würde. Ich war über seine stoische Haltung nicht erstaunt, denn ich war selbst nicht überzeugt von dem, was ich ihm sagte, warum hätte er mir darauf antworten sollen? Es musste Gäfgen klar sein, dass ihm von mir keine Gefahr drohte, dass ich ihm nichts tun würde. Wie sollte ihn dann die Mitteilung beeindrucken, dass da vielleicht jemand kommen würde, der ihm Schmerzen zufügen könnte? Er brauchte sich doch nur seelenruhig zurückzulehnen und zu warten, bis der »böse Mann« kommen und damit beginnen würde, ihm wehzutun. Gäfgen spielte auf Zeit. Wir hatten diese Zeit nicht, Jakob blieben vielleicht nur noch Minuten zu leben.
Ich fragte erneut: »Was ist mit Jakob?«
Ohne mir ins Gesicht zu schauen, antwortete er: »Ich werde erpresst, meine Freundin …«
Ich unterbrach ihn.
»Dieses Märchen kannst du jemand anderem erzählen, ich will wissen, was mit dem Kind ist, wo ist Jakob? Pass mal auf, du hast das Lösegeld abgeholt, hast einen Teil auf deine Konten einbezahlt, wir haben das restliche Lösegeld in deiner Wohnung gefunden, du kennst Jakob, wir haben eine von dir handgeschriebene Checkliste in deiner Wohnung sichergestellt. Es ist eindeutig, dass du an Jakobs Entführung zumindest beteiligt bist. Wir lassen uns nicht länger verarschen. Du hast ständig gelogen und unschuldige Menschen belastet. Wie geht es Jakob? Wo ist er? Es liegt nur an dir, uns zu sagen, wo er ist, und dein Gewissen zu erleichtern. Wenn du dich weiter weigerst, werden wir uns damit nicht zufriedengeben.«
Keine Reaktion. Ich versuchte einen anderen Ansatz.
»Hast du Angst vor dem Knast? Du weißt ja, wie es dort Tätern gehen kann, die Kindern etwas angetan haben.«
Es ist eine bekannte Tatsache, dass Kinderschänder, Kindsmörder, Kindesentführer im Knast schlechte Karten haben. Diese Delikte sind auf der Kriminellenskala ganz unten angesiedelt. Da sitzen die brutalsten Typen, aber wenn es um ihr eigenes Fleisch und Blut geht, werden sie zahm, sorgsam, entfalten Beschützerinstinkte. Wehe, meinem Nachwuchs passiert etwas, wehe, einer tut ihm weh, ich bin im Knast, ich kann ihn vor Gefahren nicht beschützen. Die eigene Angst und vor allem Ohnmacht, Machtlosigkeit werden dann stellvertretend auf denjenigen übertragen, der wegen eines entsprechenden Deliktes in U-Haft oder Haft kommt, also erreichbar ist. Da ist dann einer, der genau das gemacht hat, wovor sie Angst haben, wovor sie ihre Kinder schützen wollen – und nicht können, weil sie im Knast sitzen.
»Wenn du vor dem Knast Angst hast, da können wir versuchen, etwas für dich zu tun und die Anstaltsleitung ansprechen, damit dir nichts passiert.«
»Ich weiß nicht, ich kann nichts sagen, ich bin da reingeraten …«
Gäfgen stammelte.
»In was bist du reingeraten? Die Zeit wird knapp!«
Schweigen, keine Reaktion.
Auch das führte also nicht weiter.
Ich selbst habe vier Kinder, zwei davon ungefähr im Alter von Jakob. Ich hänge sehr an ihnen. Die Jüngeren leben bei ihrer Mutter, und ich mache mir oft Gedanken um sie, weil sie so weit weg sind. Wie könnte ich ihnen helfen und was könnte ich tun, wenn
Weitere Kostenlose Bücher