Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
ihnen etwas passieren würde? Wenn ich von Entführungen erfuhr, dachte ich an meine Kinder und ihre möglichen Ängste und Qualen und wie sie in einer solchen Situation nach mir rufen und hoffen würden, dass ich ihnen helfe.
Diese Gedanken vermischten sich mit der aktuellen Situation. Ich dachte daran, dass Jakob lebte, irgendwo eingesperrt war, panische Angst hatte und möglicherweise verletzt war, dass er keine Chance hatte, sich selbst zu helfen, und es nur noch eine Frage von wenigen Stunden war, bis er stürbe. Ich hatte Bilder von seiner Verzweiflung, seinem angsterfüllten Flehen um Hilfe im Kopf.
Ich muss es schaffen, Bilder zu erzeugen!, sagte ich mir.
»Wo ist der Junge? Denk an seine Angst, an seine Augen, an seine vor Angst panischen Augen!«
Keine Reaktion, Gäfgens Blick war immer noch von mir abgewandt. Er konnte mir nicht in die Augen schauen.
»Wo ist Jakob? Du wirst immer an seine Augen denken, seine Schreie hören. Seine Augen werden dir nie aus dem Kopf gehen. Du wirst immer an seine Angst denken müssen, Tag und Nacht, und wenn du Kinder siehst, wirst du dich an ihn erinnern. Er wird dir nie aus dem Kopf gehen.«
Gäfgen machte immer noch keine Anstalten, irgendetwas zu sagen.
»Der Junge wird dir nie aus dem Kopf gehen!«
Ich machte in der Höhe meiner rechten Schläfe kreisende Bewegungen mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand.
»Du wirst immer an ihn denken müssen! Du wirst von ihm träumen, du wirst nachts schweißgebadet aufwachen, du wirst ihn nie vergessen, er wird dich dein Leben lang verfolgen! Dein Leben lang wirst du nichts anderes sehen als seine Augen, nichts anderes hören als seine Angstschreie. Jeder Tag wird so beginnen, jede Nacht wird dich endlos quälen.«
Keine Reaktion.
»Du wirst Jakob nie vergessen, er wird dich immer verfolgen. Dein Leben lang. Weißt du, was es bedeutet, Tag und Nacht, jeden Tag deines Lebens an ihn zu denken? Was ist mit Jakob? Wie geht es ihm? Was hast du mit ihm gemacht? Hat er Hunger? Friert er? Wo ist er? In einer Kiste? Eingegraben? Was ist mit Jakob? Sag’s mir, sprich endlich! Was ist mit Jakob? Hat er Schmerzen? Lebt er noch?«
Keine Reaktion.
»Wo ist Jakob? Du wirst Jakob nie vergessen. Sein Flehen um Hilfe, sein Schreien werden dir nie mehr aus dem Kopf gehen, werden dich für immer verfolgen. Dein Leben lang. Hast du ihm wehgetan? Ihn verletzt? Kann er sich bewegen? Hat er genug Luft? Du wirst seine Augen nie vergessen, die panische Angst in seinen Augen, nie! Keine Nacht wirst du mehr schlafen, du wirst Angst vor der Dunkelheit haben, denn sie wird dich an das erinnern, was du mit Jakob gemacht hast. Wo hast du ihn versteckt?«
Nicht die Fragen oder die einzelnen Worte waren entscheidend. Es war die Gesamtheit meiner Person. Ich war voller Wut und Zorn, hatte Angst um Jakob, ich wollte und musste diesem Spiel ein Ende machen. Ich war total angespannt und vor allen Dingen absolut entschlossen. Meine Entschlossenheit, nicht eher aufzugeben, bis ich erfahren hatte, was mit Jakob passiert war, hat Gäfgen sehr deutlich gespürt.
Plötzlich eine Reaktion.
»Ich … ich … ich glaube … er ist in … bei einem See in der Nähe von Birstein.«
»Was soll das heißen? Lebt er noch oder ist er tot?«
»Ich weiß nicht, wahrscheinlich ist alles zu spät!«
»Wie, alles zu spät? Stimmt das jetzt mit dem See? Wo genau ist der See?«
»In der Nähe von Birstein, im Vogelsberg, ich kann es auf einer Karte zeigen!«
Ich sprang auf, rannte zur Tür, öffnete sie und schrie über den Flur: »Ich brauche sofort eine Karte von Birstein!«
Olli Korn hatte mich gehört. »Ich komme aus der Gegend, ich kenne mich dort aus, warte, ich komm sofort mit einer Karte!«
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Olli mit der Landkarte zurückkam. Er hatte unseren Kollegen Sören Skora dabei. Beide wandten sich mit der Karte Gäfgen zu.
Olli Korn fragte: »Lebt der Junge denn noch?«
»Ich bin vor den anderen vom Teich weggefahren«, behauptete Gäfgen.
»Wer sind die anderen?«, wollte Olli wissen.
Keine Antwort. Daraufhin breitete Olli die Landkarte aus, und Gäfgen zeigte ungefähr die Stelle.
»Stimmen diese Angaben?«
»Das stimmt jetzt.«
Olli Korn und Sören Skora erklärten den Kollegen, wo sich der Fischweiher befand. Sie besorgten sich Autos, nahmen ihre Einsatztaschen und fuhren zusammen mit dem Kollegen Lehnert und weiteren Polizeikräften sofort zum Teichgelände.
Ich ging wie benommen in das nächste offen stehende Büro
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