Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
sein Schicksal rückten bald in den Hintergrund. In den Vordergrund rückte Gäfgen, der mit seiner Foltergeschichte die unendliche »Causa Daschner« initiiert hatte. Ich würde gerne das Ende dieser Geschichte erreichen, ein klares »Ja«, ein Menschenleben ist es wert, gerettet zu werden, es ist das höchste Gut. Ein Aus für dieses Foltermärchen, das unser Rechtssystem ins Lächerliche zieht und zukünftige Opfer der Hoffnung auf Rettung beraubt.
Ein Historiker aus dem elsässischen Colmar schrieb dazu: »Deutschland hat seine Affäre Dreyfus.« Er erinnerte an den französischen Offizier jüdischer Abstammung, Alfred Dreyfus, der 1894 aufgrund gefälschter Dokumente wegen Landesverrats verurteilt und deportiert wurde. Emile Zola löste vier Jahre später mit seiner Veröffentlichung J’accuse ( Ich klage an ) heftige innenpolitische und antisemitische Auseinandersetzungen aus, die zum Bruch zwischen Frankreich und dem Vatikan führten. Dreyfus wurde 1899 in einem neuen, öffentlichen Schauprozess zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, aber begnadigt; und es dauerte weitere sieben Jahre, bis er gänzlich freigesprochen und rehabilitiert wurde.
In unserem Fall waren es keine gefälschten Dokumente, sondern eine verfälschte Definition des polizeirechtlichen Begriffs »unmittelbarer Zwang«.
Politiker aller Schattierungen meldeten sich zu Wort und gaben dem Fall Bedeutung. Hier nur eine kleine Auswahl:
Oskar Lafontaine, der gelegentlich seine Freunde mehr fürchten muss als seine politischen Gegner, zeigte Mut und Menschlichkeit: »Der Staat darf nicht foltern. Er kann aber auch nicht tatenlos zusehen, wie ein Kind qualvoll stirbt. Der Frankfurter Polizeivizepräsident Daschner hat einem Entführer Gewalt angedroht, um das Leben seines Opfers zu retten. Er wusste nicht, dass das Kind schon tot war … Wie vermeiden wir eine doppelte Moral? Wenn uns einer nach dem Leben trachtet, ist Verteidigung erlaubt. Geht es nicht anders, dann dürfen wir den Angreifer töten. Das gilt für Soldaten im Krieg und für die Polizei im Alltag. Daschner musste entscheiden, ob er untätig bleibt, wenn ein Verbrecher den Ort, an dem ein Kind mit dem Tode ringt, nicht preisgibt, oder ob er Gewalt androht und notfalls antut, um das Leben des Kindes zu retten. Seine Entscheidung war in diesem Ausnahmefall richtig. Ein Freispruch für die Folter ist das nicht.« ( Bild , 03.03.2003)
Auch Peter Gauweiler mahnte zur Sachlichkeit und beschrieb ein Gedankenexperiment, das in der deutschen Juristenzeitung diskutiert wurde: »… Hält ein Geiselnehmer die Pistole an die Schläfe der Geisel, darf er erschossen werden. Hat dieser aber die tickende Bombe an der Geisel befestigt, soll er selbst durch einfachen Zwang nicht zur Preisgabe des Codes des Zündmechanismus gezwungen werden dürfen, um die Geisel zu retten …« Gauweiler geht auch auf den Entführungsfall Matthias H. ein und stellt die Frage in den Raum: »Wäre die Anwendung von körperlichem Zwang gegen die bereits verhafteten Täter zum schnelleren Herausfinden des Verstecks legitim gewesen?« Seine Antwort lautet, die Würde des Opfers habe Vorrang und Zwang zur Erreichung der Rettung eines Menschenlebens sei gerechtfertigt. ( Bild , 03.03.2003)
Und der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch sagte der Bild am Sonntag (23.03.2003): »Wolfgang Daschner hat in einer schlimmen Konfliktsituation, in der er hoffte, das Leben des kleinen Jakob von Metzler noch retten zu können, für sich eine Entscheidung getroffen, in der er die letzte Chance sah, den Aufenthaltsort des vermeintlich noch lebenden Jungen zu erfahren. Es ist in einem Rechtsstaat selbstverständlich, dass dieses Verfahren juristisch überprüft wird. Ich persönlich halte Daschners Verhalten in dieser Konfliktsituation, in der er ein Leben retten wollte, für menschlich sehr verständlich.«
Die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries erklärte, im Fall Metzler könne den Beamten ein »rechtfertigender Notstand« zugebilligt werden. Im Zweifel werde man den Polizisten freisprechen, sagte sie am 20. Februar 2003 zu focus online .
Tarek Al-Wazir, der Fraktionschef der hessischen Grünen, stellte die Frage, ob der Rechtsstaat alles dürfe, was Erfolge zeigen könne: »Nicht alles, was Koch für menschlich verständlich hält, ist rechtsstaatlich erlaubt« ( Die Welt , 24.02.2003).
Guido Westerwelle ergänzte: »Folter oder die Androhung von Folter darf in Deutschland unter keinen Umständen eine
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