Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Verfahrenseinstellung gegen Geldauflage angeboten worden wäre – was nie der Fall war –, welchen Preis hätten wir dafür bezahlen müssen?
Hätten wir bekennen müssen, dass es falsch war, zu versuchen, das Leben des entführten Kindes zu retten, hätten wir uns bei dem Kindsmörder Gäfgen entschuldigen müssen? Dieser Preis wäre zu hoch und weder mit unserem Gewissen vereinbar noch gegenüber Jakob und seiner Familie vertretbar gewesen.
Damals hofften wir auch noch, dass wenigstens das Gericht eine »gerechte« Entscheidung treffen und dem medialen wie politischen Druck widerstehen würde.
Aber dazu bedarf es eines kurzen Ausflugs in das Recht.
Die Weimarer Verfassung von 1919 verpflichtete die Gerichte zur Achtung der Gesetze: »Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.« (Art. 102)
Nach einem dieser Gesetze handelte Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofes und als »Blutrichter« berüchtigt, als er im Februar 1943 von Berlin nach München eilte, um die Geschwister Hans und Sophie Scholl zum Tode zu verurteilen und bereits einen Tag später aufs Schafott zu schicken.
Die Väter unseres Grundgesetzes haben daraus gelernt. Sie legten fest: »Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.« (Art. 20 Abs. 3 GG)
»Recht ist immer auf Moral gegründet und auf moralische Ziele gerichtet; denn man kann Recht nicht anders definieren als eine Ordnung, die ihrem Sinn nach dazu bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.« (Gustav Radbruch, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 107)
Auch das Bundesverfassungsgericht hat dazu in seinem Beschluss vom 14. Februar 1973 grundsätzliche Aussagen getroffen. »… Rechtsprechung und vollziehende Gewalt sind an ›Gesetz und Recht‹ gebunden« (Art. 20 Abs. 3 GG). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt.
Gesetz und Recht decken sich nicht immer. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch.
In einfachen Worten gesagt, gibt es in der Rechtsphilosophie zwei Schulen: den Rechtspositivismus und das Naturrecht.
Der Rechtspositivismus trennt zwischen Recht und Moral und verlangt absoluten Gehorsam gegenüber dem Gesetz, unabhängig davon, ob es gerecht oder ungerecht ist.
Durch die negativen Erfahrungen mit dem Rechtspositivismus im Nationalsozialismus wurde die Stellung der Anhänger des Naturrechts in der Nachkriegszeit gestärkt, da dieses die Menschenwürde besser schützt. Als Variante des Naturrechts gilt das Vernunftrecht. Beide Schulen sehen sich aber immer in der Gegenposition zum reinen Rechtspositivismus.
»Naturrecht« bezeichnet ein Rechtssystem, das davon ausgeht, dass es unveränderbare Rechtsprinzipien gibt, die vom Menschen nicht verändert werden können und über dem vom Menschen geschaffenen positiven Recht stehen.
Zu diesen unveräußerlichen Rechten gehören in erster Linie das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Freiheit.
Weitere Erklärungen würden jetzt zu weit führen und Laien auch unverständlich erscheinen. Wenden wir das, was wir wissen, auf unseren Sachverhalt an.
Der »Akt des bewertenden Erkennens« blieb den Anhängern des Rechtspositivismus, die sich zu unserem Fall lautstark zu Wort gemeldet hatten und auf deren Seite sich Vertreter namhafter Menschenrechtsorganisationen schlugen, offenbar verborgen. Sie vertraten ein formales Verständnis von Recht, das von der Moral getrennt ist, und lehnten jede Ausnahme ab. Für sie reichte es aus, wenn ein Gesetz in dem dafür vorgesehenen Verfahren zustande gekommen war; sie verlangten Gehorsam gegenüber dem Gesetz, unabhängig davon, ob es gerecht oder ungerecht ist.
Die Rechtspositivisten hielten jeden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindesentführers und -mörders Magnus Gäfgen für absolut ausgeschlossen.
Sie sahen durch den konkreten Einzelfall das Folterverbot insgesamt in Gefahr und verkannten dabei, dass dieses Verbot in erster Linie eingeführt wurde, um Diktatoren und Unrechtssysteme davon abzuhalten, missliebige Gegner in Scheinprozessen zu Geständnissen zu zwingen, in deren Folge die Todesstrafe oder langjährige Zwangsarbeit verhängt werden konnte.
Dabei hielten sie auch den möglichen Tod eines oder mehrerer Menschen durch die Hand eines Verbrechers oder durch Terroristen für hinnehmbar; von einem Volk, das sich international zur
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