Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Entscheidung Daschners mitgetragen zu haben.
Einvernehmen bestand bei allen befragten Polizisten, die mit Gäfgen nach seiner Befragung zu tun hatten, darüber dass Gäfgen keine Andeutungen in Bezug auf Übergriffe und Bedrohungen gemacht hatte und Angst nur um seine Freundin vorgespielt hätte, die durch die angeblichen Mittäter in Gefahr gewesen wäre.
Nach Durchsicht der Akten und des Gäfgen-Urteils wurde uns klar, dass wir vorverurteilt waren:
In dem Beschluss vom 9. April 2003 machte der Vorsitzende Richter Hans Bachl deutlich, dass Polizeivizepräsident Daschner und ich nach vorgefasster Entscheidung der Frankfurter Justiz als überführte Rechtsbrecher anzusehen wären – noch bevor die Staatsanwaltschaft den ersten polizeilichen Zeugen vernommen hatte: Die Kammer gehe »nach Aktenlage« davon aus, dass dem Angeklagten Gäfgen in den Morgenstunden des 1. Oktober 2002 von einem Polizeibeamten auf Anordnung des Vizepräsidenten angedroht worden sei, man werde ihm Schmerzen zufügen, wenn er den Aufenthaltsort von Jakob nicht preisgebe. Es sei bereits jetzt festzustellen, dass schon diese Androhung gesetzwidrig gewesen sei, die Drohung mit einer solchen unzulässigen Maßnahme sei verboten. Und in dem Urteil gegen den Kindsmörder Gäfgen vom 28. Juli 2003 verkündete Bachl der Einfachheit halber auch gleich den Schuldspruch gegen uns: Gegen den Angeklagten Gäfgen seien nach seiner Festnahme verbotene Vernehmungsmethoden im Sinne von § 136a der Strafprozessordnung angewandt worden, »indem ihm die Zufügung von Schmerzen angedroht wurde«. Allein die dadurch ausgelöste Diskussion über die Zulässigkeit von »Foltermaßnahmen« habe »der Rechtsstaatlichkeit dieses Landes Schaden zugefügt«.
Die Frankfurter Justiz hatte uns also schon verurteilt, lange bevor wir – nach mehreren erfolglosen Anträgen unserer Verteidiger – am 18. September 2003 erstmals Akteneinsicht erhalten hatten und mehr als sieben Monate vor Abschluss der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft. Die »Aktenlage«, auf die sich Bachl berufen hatte, bestand aus der einseitigen – und selbst für die 22. Strafkammer insgesamt nicht glaubwürdigen – Darstellung eines Mordverdächtigen, die unter sehr fragwürdigen Umständen zustande gekommen war, und deren Urheber in dem laufenden Strafverfahren ständig neue Lügen und falsche Anschuldigungen produziert hatte. Und der Aktenvermerk des Vizepräsidenten enthielt die klare Aussage, dass die Durchführung der angeordneten Maßnahme »entbehrlich« geworden sei.
»Die Vorverurteilung ist eines der Krebsgeschwüre eines jeden Rechtssystems und wirkt sich in einer immer mehr von verschiedenen Medien beobachteten Rechtswirklichkeit … auch in deutschen Strafprozessen aus«, schrieb die Rechtsanwaltskammer Schleswig-Holstein in der Einladung zu einer Podiumsdiskussion. Sie stützt sich dabei auf Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948:
»Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.«
Diese Erklärung wird ergänzt durch Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention: »Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.« Die Vermutung der Unschuld endet danach erst mit der Rechtskraft der Verurteilung.
Wir waren noch nicht einmal angeklagt – und trotzdem schon verurteilt. Hans Bachl hatte wohl, ebenso wie unsere Richter der 27. Strafkammer des Frankfurter Landgerichts, vergessen, was sie in ihrem Richtereid geschworen hatten: »Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen.« (§ 38 Abs. 1 des Deutschen Richtergesetzes).
Staatsanwalt Möllers zeigte sich dem verurteilten Mörder Gäfgen gegenüber wesentlich großzügiger und entgegenkommender als zu uns. Am 10. Februar 2004 teilte er mit, dass er »dem Zeugenbeistand des Geschädigten, Herrn Rechtsanwalt Dr. Endres, antragsgemäß Akteneinsicht gewähren« werde. Immerhin räumte er eine zweitägige Frist für rechtliches Gehör ein; sollte »binnen zwei Tagen nach Zugang dieses Schreibens
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