Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Beginn ihr Opfer töteten.‹) – ein Virus, das, wie auch zwischen den Zeilen erkennbar, das ganze Urteil infiziert.
Es hat – eine weitere juristische Todsünde – am Sachverhalt gedreht: Es seien, auch aus Daschners Perspektive (Seite 23), keineswegs alle sonst noch als eventuell ›zielführend‹ bewerteten, jedoch ›weniger einschneidenden‹ Mittel ausgeschöpft gewesen. So sei die Suche nach dem Versteck in dem riesigen Areal, das Magnus Gäfgen mit seinen wenigen Hinweisen nur grob (und bewusst ›irreführend‹, Seite 12) umrissen hatte, noch keineswegs erfolglos abgeschlossen gewesen, auch habe der vom Polizeipsychologen vorgeschlagene ›Einsatz‹ von Jakobs Schwester (Konfrontation mit dem Täter) noch ausgestanden, und überhaupt sei keineswegs ausgemacht gewesen, ob eine Fortsetzung des Versuchs, G. durch Gewissensappelle zum Reden zu bringen, nicht doch noch zum Erfolg geführt hätte. All das habe Daschner nicht abgewartet, sondern den Entführer eigenmächtig und vorschnell, damit unangemessen und folglich ›verwerflich‹ (Paragraf 240 Absatz 2 des Strafgesetzbuches) bedroht.
Hier hat das Gericht nur die halbe Wahrheit erörtert: Mit keinem Wort wird erwogen, dass der ›Einsatz‹ von Jakobs 15-jähriger Schwester ein Verstoß gegen deren Menschenwürde gewesen wäre, weil der zu erwartende Fehlschlag sie ihr Leben lang belastet und traumatisiert hätte. Ebenso bleibt unberücksichtigt, dass jeder vorangegangene Gewissensappell an G. (sogar der seiner Mutter) bis dahin nicht nur vergebens gewesen war, sondern immer nur neue kaltschnäuzige, verzögernde Lügereien ausgelöst und so das Kind weiter gefährdet hatte.
Hier hätte eine juristisch saubere Argumentation es erfordert, das nach Lage der Dinge (aus polizeilicher Sicht) noch verbleibende Zeitfenster und die aus Opferschutzgründen zwingend zu unterstellende aktuelle Opfersituation genauestens zu analysieren: Das Kind war zu diesem Zeitpunkt bereits tagelang unversorgt und im Zustand völliger Bewegungsunfähigkeit in Gefahr, an Unterkühlung zu sterben (es war Anfang Oktober!); es litt unter akut lebensbedrohlicher Dehydrierung, sein Luftvorrat ging zur Neige, es konnte, wie in anderen Entführungsfällen geschehen, durch mangelhafte Konstruktion der Luftzufuhr qualvoll ersticken.
Mit keiner Silbe werden diese Aspekte des Dramas, die aber für Daschner die entscheidenden waren, vom Gericht nachvollzogen und sofortigen Handlungsbedarf begründend gewürdigt. Im Gegenteil, das angenommene Szenario wird locker abgetan: Bloße ›Vermutungen‹ ohne ›sichere Anhaltspunkte‹ und dann auch noch falsch, denn das Kind war ja längst tot (Seite 23); zudem hätten ›noch zahlreiche Handlungsalternativen‹ bestanden (von denen freilich keine einzige ernsthaft auf Tauglichkeit überprüft und an den gemachten Erfahrungen gemessen wird). Für die Frankfurter Richter tickte hier keine Uhr, drohte kein unschuldiges Kind in ein paar Stunden elend zugrunde zu gehen, nur weil ein arroganter Rotzlöffel (so Holzhaiders treffende Charakterisierung) den Mund nicht aufmachte, sondern sich darin gefiel, die Puppen tanzen zu lassen und mit tausend Polizeibeamten (die laut Urteil zu diesem Zeitpunkt im Nebel stocherten) Katz und Maus zu spielen.
Stattdessen wird der Menschenwürde dieses Gewalttäters, deren unbedingter Schutz laut Urteil auch die Respektierung seiner Entscheidungsfreiheit (nämlich das von ihm verheimlichte Versteck preiszugeben oder das Kind auf elende Weise umkommen zu lassen) einschließe (Seiten 34, 36), breiter Raum gewidmet und bedingungslose Priorität eingeräumt. Die Menschenwürde des kleinen Jakob bleibt ausgespart. Auch dass Daschner von G. nur das herausholen wollte, was dieser von Rechts wegen sowieso zu offenbaren verpflichtet war, und dass G. es selbst in der Hand hatte, durch Erfüllung dieser Rechtspflicht die ihm gegenüber ausgesprochene Drohung jederzeit gegenstandslos zu machen (welches ›Folteropfer‹ befand sich jemals in so komfortabler Lage?), fällt unter den Tisch.
Wieder wird in dem Urteil unehrlich argumentiert: Daschner habe noch gar nicht wissen können, ob G. überhaupt der Täter (und nicht etwa nur eine unwissende Randfigur) sei, der Fall sei ja noch nicht restlos ausermittelt gewesen (Seite 39) – angesichts der zuvor (Seiten 8 und 9) aufgelisteten Ermittlungsergebnisse, die zu diesem Zeitpunkt bereits vorlagen und zwingend die Haupt-, wenn nicht gar die Alleintäterschaft G.s indizierten
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