Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
versprochen worden war«.
Kein Wort zu der äußersten Lebensgefahr, der Jakob – wäre er nicht bereits unmittelbar nach der Entführung ermordet worden – an diesem Morgen ausgesetzt gewesen wäre. Die Darstellung des Polizeivizepräsidenten zu der Gefährdungslage war unbequem, unerwünscht, sie passte nicht in das vorgefasste Urteil. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sich weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht die Mühe gemacht hatten, dazu einen medizinischen Sachverständigen zu hören, wozu sie nach dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Strafverfahren verpflichtet gewesen wären? Nicht einmal die polizeilichen Zeugen wurden dazu befragt – auch nicht dazu, ob sie sich über die Gefährdungslage überhaupt Gedanken gemacht hatten. Daschners fundierter Einwand wurde einfach ignoriert, ebenso wie gesicherte Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft – ein schwerwiegender Mangel, der für sich allein schon eine Revision begründet hätte.
Stattdessen befand die Strafkammer, es hätten »noch andere, weniger einschneidende Maßnahmen zur Verfügung gestanden, wie zum Beispiel die noch nicht durchgeführte Konfrontation mit den Geschwistern des Opfers«. Auch die »noch laufenden Maßnahmen gegenüber den Brüdern B. [Name geändert] und die operativen Maßnahmen am Langener Waldsee sollten fortgesetzt werden«; dies hätten »die Abschnittsleiter, erfahrene Kriminalisten«, als »erfolgversprechend und zielführend« angesehen.
Die Annahme, das Kind sei in akuter Lebensgefahr, gründe sich auf Vermutungen wegen des Zeitablaufs und auf kriminalistische Erfahrungen aus früheren Erpressungsfällen: »Sichere Anhaltspunkte für eine derartige Opfersituation gab es nicht. Die Realität war ohnehin anders.«
Hatten diese Richter denn immer noch nicht bemerkt, dass die »noch laufenden Maßnahmen« schon allein deshalb erfolglos bleiben mussten, weil sie nichts anderes waren als ein Lügengebäude des Entführers und Mörders?
Und vor der erneut geplanten Konfrontation mit Elena von Metzler wäre die Lebensuhr ihres Bruders längst abgelaufen gewesen, unabhängig von den Erfolgsaussichten, die bei nahezu Null anzusiedeln waren, und unabhängig von der Frage, ob diese Maßnahme einem 15-jährigen Mädchen überhaupt zuzumuten war.
Haben Opfer ein Recht auf Leben?
»Die Schutzpflicht des Staates zur Rettung menschlichen Lebens besteht immer nur in den Grenzen, die dem Handeln des Staates gesetzt sind«, schrieben die Richter der 27. Großen Strafkammer in ihrem Urteil. Und sie sahen diese als absolut bezeichneten Grenzen in verfassungswidriger Weise bereits überschritten, wenn ein Verbrecher durch die Androhung von Schmerzen an der Vollendung eines Mordes gehindert werden soll.
Die Europäische Menschenrechtskonvention stellt das Recht auf Leben an allererste Stelle der Rechte und Freiheiten (Art. 2 Abs. 1 MRK). Dies entspricht auch der Werteordnung in Artikel 3 der Hessischen Verfassung, der – in dieser Reihenfolge – »Leben und Gesundheit, Ehre und Würde des Menschen« für unantastbar erklärt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das im Grundgesetz garantierte Lebensrecht »das elementare und unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeht« (BVerfG, Urt. V. 28.5.1993, JZ-SA S. 16 f.), es stellt einen »Höchstwert« dar.
Es gibt also kein höheres Recht als das Leben, schon gar nicht das Wohlbefinden eines gewissenlosen Verbrechers. Dazu schreibt Ingo von Münch (Professor für Verfassungs- und Völkerrecht):
»Das Recht auf Leben ist nicht nur ein negatives Abwehrrecht, sondern begründet auch positive Leistungsansprüche gegenüber dem Staat. Zwar sind Fälle denkbar, in denen der Staat eine Lebensvernichtung als rechtmäßig anerkennen kann (beispielsweise beim ›finalen Rettungsschuss‹ der Polizei); diese staatlich vorgenommenen oder geduldeten Eingriffe sind aber nur dann zulässig und gerechtfertigt, wenn dabei Leben gegen Leben steht und die Entscheidung zugunsten des einen Lebens verfassungsrechtlich geboten ist. Es ist dem Staat verwehrt, durch Unterlassen in das Recht auf Leben einzugreifen.« (GG-Kommentar, Art. 2 Rdnrn. 44, 46)
Der Staat muss den Bürger auch vor Übergriffen Dritter schützen; jeder Bürger hat den Anspruch auf persönliche Sicherheit.
»Bei der Aufgabe, das menschliche Leben vor seiner Tötung zu schützen, handelt es sich um eine elementare staatliche Schutzaufgabe. Ihre Erfüllung ist eine
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