Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Häftling in den Hungerstreik tritt, ist es nicht nur zulässig, sondern Verpflichtung des Staates, ihn unter Zwangsanwendung künstlich zu ernähren.
Es gab und gibt keine Vorschrift, die dem erpresserischen Entführer eines Kindes erlaubt, sein Opfer zu ermorden, um den einzigen Zeugen seiner Tat zu beseitigen.
Der renommierte Mainzer Professor für Strafrecht und Strafverfahrensrecht, Prof. Dr. Volker Erb, schrieb dazu: »Bei der Misshandlung eines Entführers mit dem Ziel, seine Macht über das Schicksal des Opfers zu brechen, geht es … um den erforderlichen Widerstand gegen das Unrecht. Wer diesen Widerstand mit strafrechtlichen Mitteln unterbindet, stellt zugleich die ungestörte Vollendung eines Mordes unter den Schutz der Rechtsordnung.«
Wie lässt sich der Tatbestand der Nötigung begründen?
Nachdem die 27. Große Strafkammer alle zutreffenden Rechtfertigungsgründe mit einem Federstrich beiseitegeräumt hatte, musste für unsere Verurteilung nur noch der Straftatbestand der Nötigung nach § 240 StGB begründet werden.
Die Androhung von Schmerzen zu dem Zweck, eine Information zu erlangen, sei »verwerflich« gewesen, führten die Richter aus. Die innere Verknüpfung von Nötigungsmittel und Nötigungszweck (Zweck-Mittel-Relation) stelle auf einen erhöhten Grad sittlicher Missbilligung und sozialwidrigen Verhaltens ab.
In diesem Wertbegriff seien die Gebote des Grundgesetzes und damit auch »die unumstößliche Wertigkeit des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes« enthalten: »Ein Verstoß gegen die Achtung der Menschenwürde ist daher auch als verwerflich anzusehen, wenn dieser – subjektiv – zu dem Zweck erfolgt ist, das Leben eines Kindes zu retten.«
Nach Auffassung der Richter wäre es also nicht »verwerflich« gewesen, den Mord an Jakob von Metzler geschehen zu lassen!
Wir haben also nach Ansicht des Gerichts eine Straftat begangen, weil wir einen Verbrecher »genötigt« haben, den Mord an einem elfjährigen Kind, das er entführt hatte und das nach seinen eigenen Angaben noch lebte, das aber in höchster Lebensgefahr schwebte, nicht zu vollenden. War das »verwerflich«, also nach dem Sprachgebrauch »verdammenswert, verächtlich oder unsittlich«?
Mit der Verwerflichkeitsklausel als tatbestandsregulierendem Korrektiv hat der Gesetzgeber die Strafbarkeit wegen Nötigung auf Handlungen beschränkt, bei denen die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem vom Täter angestrebten Zweck als »verwerflich« anzusehen ist. Die Klausel ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der übermäßige Sanktionen untersagt, und steht in Einklang mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens – so hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. »Verwerflich« bedeutet einen »erhöhten Grad sittlicher Missbilligung« im Sinne eines »sozialwidrigen Handelns« unter Berücksichtigung der Güterabwägung. Die Rechtswidrigkeit ist nur gegeben, wenn das nötigende Verhalten als »sozial unerträglich« anzusehen ist.
Die Beurteilung als »verwerflich« knüpft nach der gefestigten Rechtsprechung der höchsten deutschen Gerichte an sozialethische Wertungen an; sie wird bejaht, wenn das Verhalten nach allgemeinem Urteil sittlich in so hohem Maße missbilligenswert erscheint, dass es sich als strafwürdiges Unrecht darstellt.
Die Prüfung der »Verwerflichkeit« hatte nach dem Recht des Jahres 2002 zu erfolgen, ohne Verweisung auf die »Geschichte dieses Staates«. Es ging nicht um »die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes« oder darum, »so etwas wie damals nie wieder entstehen zu lassen und mit der Fassung dieses Grundgesetzes einen deutlichen Riegel vor jegliche Versuchung zu schieben«. Es ging auch nicht darum, einen Menschen »ein zweites Mal als Träger von Wissen« zu behandeln, »das der Staat aus ihm herauspressen will, und sei es auch im Dienste der Gerechtigkeit«.
Nein, es ging einzig und allein darum, die Grundrechte von Täter und Opfer gegeneinander abzuwägen. Und dabei standen sich gegenüber
– die Menschenwürde des Opfers, die bereits seit Tagen extrem und in vollem Umfang verletzt war, und die Menschenwürde des Täters, die allenfalls partiell und geringfügig beeinträchtigt worden wäre,
– das Recht des Opfers auf Leben, das in höchstem Maße bedroht war und in maximal zwei Stunden unwiederbringlich verloren war,
– das Recht des Opfers auf Freiheit, das ihm bereits seit vier Tagen durch einen gewissenlosen Verbrecher geraubt
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