Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen gewesen, dass die Entführer Peter Lorenz töten würden, sollte ihre Freilassungsforderung nicht fristgerecht erfüllt werden. Dass die Gefahr für die Geisel keine Augenblicks-, sondern eine sogenannte Dauergefahr war, sei unerheblich; denn auch eine Dauergefahr sei »gegenwärtig«, wenn feststehe, dass dem Schaden nur durch sofortiges Handeln wirksam begegnet werden könne, auch wenn er noch nicht unmittelbar bevorstehe.
Die Gefahr habe nicht anders abgewendet werden können, »weil es keine hinreichend erfolgversprechende Möglichkeit zur Rettung des Entführten gab als die Freilassung der Häftlinge«.
Wenn aber die Freilassung mehrerer terroristischer Strafgefangener zum Schutz des menschlichen Lebens zulässig ist, kann dann die Ankündigung unmittelbaren Zwanges gegen den Täter mit demselben Schutzzweck verboten sein?
Wurde zumindest der entschuldigende Notstand in Erwägung gezogen?
Mit dem Notstand des § 35 StGB und dem »übergesetzlichen« Notstand, die zumindest als Entschuldigungsgründe (hilfsweise) zu prüfen waren, haben sich unsere Richter überhaupt nicht befasst: »Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld.« Wenn einem Polizeibeamten, in dessen Hand allein das Leben eines Entführungsopfers liegt, eine Garantenpflicht übertragen wird, dann handelt es sich bei diesem Opfer um eine »ihm nahestehende Person« im Sinne des § 35 StGB.
Auch der »übergesetzliche Notstand« kam also als Entschuldigungsgrund in Betracht.
Ein Schuldminderungsgrund wäre demnach zu suchen »… in der vergleichsweise ebenso starken motivatorischen Kraft der Gewissensentscheidung eines Täters, der sich zum Handeln entschließt, weil er sich auch dann in schwerste sittliche Schuld verstricken müsste, wenn er den Dingen einfach ihren Lauf ließe. Die Grundstruktur dieser Notstandsfälle entspricht insofern mithin der beim entschuldigenden Notstand …, was auch ihre entsprechende Behandlung rechtfertigt.« (Schönke/Schröder, Vorbem. Zu §§ 32 ff. StGB, Rdnr. 116)
Diese Auslegung steht in Übereinstimmung mit Art. 31 Abs. 1d des Römischen Statuts des Internationalen Staatsgerichtshofes vom 17. Juli 1998: »Neben anderen in diesem Statut vorgesehenen Gründen für den Ausschluß der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist strafrechtlich nicht verantwortlich, wer zur Zeit des fraglichen Verhaltens … wegen einer ihm selbst oder einem anderen unmittelbar drohenden Gefahr für das Leben oder einer dauernden oder unmittelbar drohenden Gefahr schweren körperlichen Schadens zu einem Verhalten genötigt ist, das angeblich den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes unterliegenden Verbrechens erfüllt, und in notwendiger und angemessener Weise handelt, um diese Gefahr abzuwenden, sofern er nicht größeren Schaden zuzufügen beabsichtigt, als den, den er abzuwenden trachtet.«
Durch die Androhung unmittelbaren Zwanges wäre Gäfgen mit Sicherheit kein größerer Schaden zugefügt worden, als er ihn Jakob zugefügt hatte, indem er ihn verdursten lassen wollte, wovon wir ausgegangen sind.
Welche Rolle spielt Artikel 104 des Grundgesetzes?
Der »fundamentale Satz« der Menschenwürde aus Artikel 1 findet sich auch in Artikel 104 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes wieder, »wonach festgehaltene Personen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden dürfen«. Keine Person dürfe durch die staatliche Gewalt »zum Objekt, zu einem Ausbund von Angst vor Schmerzen gemacht werden«, so schrieben unsere Frankfurter Richter.
Eine körperliche »Misshandlung« ist nach der in der ständigen Rechtsprechung und Literatur verwendeten Formel ein »übles, unangemessenes Behandeln, das entweder das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt«. Mit anderen Worten ein »rohes, das heißt, besonders gefühlloses und erhebliches Misshandeln« (BGHSt 25, 277).
Was aber ist ein »übles, unangemessenes Behandeln«? Wenn ein Betrunkener im Polizeigewahrsam randaliert, darf er mit unmittelbarem Zwang, also mit der Einwirkung körperlicher Gewalt, ruhiggestellt werden. Wenn ein Strafgefangener einen Zellengenossen quält und foltert, darf er zwangsweise an der Fortsetzung und Vollendung dieser Taten gehindert werden. Und wenn ein
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