Um Leben Und Tod
»genötigt« haben, den Mord an einem elfjährigen Kind, das er entführt hatte und das nach seinen eigenen Angaben noch lebte, das aber in höchster Lebensgefahr schwebte, nicht zu vollenden. War das »verwerflich«, also nach dem Sprachgebrauch »verdammenswert, verächtlich oder unsittlich«?
Mit der Verwerflichkeitsklausel als tatbestandsregulierendem Korrektiv hat der Gesetzgeber die Strafbarkeit wegen Nötigung auf Handlungen beschränkt, bei denen die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Ãbels zu dem vom Täter angestrebten Zweck als »verwerflich« anzusehen ist. Die Klausel ist Ausdruck des Grundsatzes der VerhältnismäÃigkeit, der übermäÃige Sanktionen untersagt, und steht in Einklang mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens â so hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. »Verwerflich« bedeutet einen »erhöhten Grad sittlicher Missbilligung« im Sinne eines »sozialwidrigen Handelns« unter Berücksichtigung der Güterabwägung. Die Rechtswidrigkeit ist nur gegeben, wenn das nötigende Verhalten als »sozial unerträglich« anzusehen ist.
Die Beurteilung als »verwerflich« knüpft nach der gefestigten Rechtsprechung der höchsten deutschen Gerichte an sozialethische Wertungen an; sie wird bejaht, wenn das Verhalten nach allgemeinem Urteil sittlich in so hohem MaÃe missbilligenswert erscheint, dass es sich als strafwürdiges Unrecht darstellt.
Die Prüfung der »Verwerflichkeit« hatte nach dem Recht des Jahres 2002 zu erfolgen, ohne Verweisung auf die »Geschichte dieses Staates«. Es ging nicht um »die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes« oder darum, »so etwas wie damals nie wieder entstehen zu lassen und mit der Fassung dieses Grundgesetzes einen deutlichen Riegel vor jegliche Versuchung zu schieben«. Es ging auch nicht darum, einen Menschen »ein zweites Mal als Träger von Wissen« zu behandeln, »das der Staat aus ihm herauspressen will, und sei es auch im Dienste der Gerechtigkeit«.
Nein, es ging einzig und allein darum, die Grundrechte von Täter und Opfer gegeneinander abzuwägen. Und dabei standen sich gegenüber
âdie Menschenwürde des Opfers, die bereits seit Tagen extrem und in vollem Umfang verletzt war, und die Menschenwürde des Täters, die allenfalls partiell und geringfügig beeinträchtigt worden wäre,
âdas Recht des Opfers auf Leben, das in höchstem MaÃe bedroht war und in maximal zwei Stunden unwiederbringlich verloren war,
âdas Recht des Opfers auf Freiheit, das ihm bereits seit vier Tagen durch einen gewissenlosen Verbrecher geraubt war,
âdas Recht auf körperliche Unversehrtheit, das bei dem Opfer ebenfalls bereits seit Tagen und in zunehmender Intensität verletzt war und das beim Täter allenfalls kurzfristig und partiell beeinträchtigt worden wäre.
Unter Berücksichtigung dieser Rechts- und Verfassungslage sowie aller Umstände des vorliegenden Einzelfalles war dem Recht des entführten Kindes Jakob von Metzler auf Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Schutz seiner Menschenwürde der eindeutige Vorrang einzuräumen vor dem Recht des Täters auf körperliche Unversehrtheit und Achtung seiner Menschenwürde. Die Entscheidung, zur Abwehr einer akuten Lebensgefahr als absolut letzte Möglichkeit die Anwendung unmittelbaren Zwanges anzukündigen, konnte daher bei objektiver Bewertung nicht »verwerflich« im Sinne des § 240 StGB sein.
Von der Lüge zur Wahrheit
Gäfgen hatte in zwei Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft und bei seiner Aussage als Zeuge in der Hauptverhandlung vieles wahrheitswidrig behauptet.
Ich habe nie gesagt, dass er jetzt â während ich mit ihm sprach â die letzte Chance zum Reden habe; stattdessen hatte ich ihm gegenüber ausdrücklich geäuÃert, dass ich ihm nichts tun würde.
Die Aussage Gäfgens war schon deshalb widersinnig, weil ihm hätte völlig klar sein müssen, dass er selbst ja jederzeit jede beabsichtigte oder auch schon eingeleitete MaÃnahme hätte beenden können, indem er den Aufenthaltsort des Kindes nannte. Er hätte seelenruhig abwarten können, was passierte. Aussagemöglichkeiten hätten ihm auch zu späterer Zeit zur Verfügung gestanden. Seine Preisgabe des Verwahrortes des entführten Kindes war einzig und allein
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