Um Mitternacht am schwarzen Fluß
und
ging zum Parkplatz.
Hinter der Windschutzscheibe lächelte
ihr Dietlinde Eckert entgegen.
Tanja öffnete die Beifahrertür und
glitt auf den Nebensitz.
„Tag, Frau Eckert“, seufzte sie. „Ist
der reinste Unfug, daß Sie mich abholen. Wie Sie sehen, trage ich den Kopf
unterm Arm und beide Beine sind gebrochen — gar nicht zu reden von den inneren
Verletzungen. Aber für Sie war die Fahrt hierher sicherlich schön.“
Dietlinde Eckerts Alter war schwer zu
schätzen. Jedes Jahr zwischen 35 und 55 konnte richtig sein. Graue Mäuse sind
eben auf gewisse Weise zeitlos grau. Und daß die Frau als Buchhalterin in einem
eleganten Modehaus arbeitete, hätte niemand vermutet.
Sicherlich — sie war so korrekt
gekleidet wie ein Pfarrer im Dienst, aber immer in Grau oder Dunkelbraun und
ängstlich bemüht, jeden modischen Pep (Schwung) zu vermeiden. Meistens
roch sie nach Lavendel wie ein Trupp Hinterbliebener, der gerade von der
Beisetzung kommt.
Sie hatte ein kleines Gesicht, aß kein
Fleisch und trug am Schreibtisch eine Bifokalbrille (Gläser mit Linsen für
Nah- und Fernsicht).
„Aber wo es doch dein Vater angeordnet
hat, Tanja“, sagte sie jetzt, „und deine Mutter auch.“
„Ach ja, die Anordnungen.“
Der Wagen rollte bereits. Rückfahrt.
Ich wollte doch gar nicht einsteigen,
dachte Tanja. Dann ergab sie sich in ihr Schicksal.
„Nur damit Sie’s wissen, Frau Eckert:
Ich sause rein bei Dr. Geidmann, lasse mir die Spritze in den Arm hauen und bin
schon wieder draußen. Sie brauchen den Motor gar nicht abzustellen. Und dann
fahren Sie mich hierher zurück. Darauf bestehe ich. Sonst läuft gar nichts.“
Dietlinde ließ keinen Blick von der
Straße. Sie fuhr fast 40 km/h. Für ihre Verhältnisse ein unerhörtes Tempo.
„Davon hat aber dein Vater nichts gesagt.“
„Muß er ja auch nicht. Ich sage es.“
Sie waren jetzt mitten im Wald. Die
Sonne stand tiefer als vorhin. Ihre Strahlen fielen schräg durch die Bäume.
„Ich glaube nicht, Tanja, daß es bei
Dr. Geidmann so rasch geht.“
„Nein? Wieso nicht?“
„Ich habe angerufen, bevor ich losfuhr.
Bei Dr. Geidmann ist das Wartezimmer voll. Und seine zweite Helferin ist
erkrankt. Deshalb kann er niemanden zwischendurch drannehmen.“
„Du liebe Güte!“ rief Tanja. „Dann
hocke ich dort zwei Stunden.“
Dietlinde erwiderte nichts. Sie hatten
jetzt die Abzweigung erreicht und bogen ein in die schmale Straße mit dem
urwalddichten Gehölz zu beiden Seiten.
Unmöglich! dachte Tanja. So geht’s
wirklich nicht. Ich müßte ja blöd sein. Schlimm genug, daß die andern den Oskar
allein suchen. Wenn ich auch noch beim Grillen fehle, stehe ich da wie nicht
abgeholt. Und Muhson kriegt bestimmt noch was aufs Ohr — wegen der Heimtücke an
Oskar. Statt dabei zu sein, öde ich mich in Dr. Geidmanns Wartezimmer an. Nein!
„Frau Eckert! Bitte, halten Sie!“
„Wie?“ Dietlinde schreckte auf.
„Ich steige aus.“
„Aber..
„Im Ernst! Es muß sein. Sie wissen ja
nicht, daß Gabys Hund abgehauen ist. Ab in den Wald, wo ihn ein Jäger
erschießen könnte, weil Hunde gern wildern. Aber eben habe ich Oskar dort
hinten unter den Bäumen gesehen. Ich muß raus.“ Dietlinde ließ sich täuschen.
Der Wagen hielt.
„Ich helfe dir, ihn einzufangen. Wenn
wir ihn zurückgebracht haben, fahre ich dich...“
„Auf keinen Fall!“ wurde sie von Tanja
unterbrochen. „Sie würden sich nur die Knöchel verstauchen. Und Oskar nimmt
Reißaus vor jedem, den er nicht kennt. Machen wir’s doch so, Frau Eckert: Sie
fahren zurück, sagen, es sei alles erledigt. Und ich sage meinen Eltern, ich
wäre zwar in Dr. Geidmanns Praxis gewesen. Aber das lange Warten ging mir auf
den Keks, und deshalb bin ich abgeschwirrt, ohne auf die Spritze zu warten. Das
verantworte ich vor meinem Gewissen. Gebongt?“
Dietlinde erschauderte. Eine
Verschwörung! Daß sich Tanja oft aufmüpfig gab, wußte sie. Doch dieser geplante
Ungehorsam jagte ihr Angst ein.
„Ich kann ja verstehen, daß du lieber
bei deinen Freunden bist. Aber deine Eltern haben mir in dieser Sache die
Verantwortung für dich übertragen. Wenn es rauskommt, daß ich sie belüge...“
„Es wird nicht rauskommen“, fiel ihr
Tanja ins Wort. „Sie und ich — wir schweigen wie ein Grab. Und auf meine
Freunde ist absolut Verlaß. Also dann, gute Heimfahrt.“
Sie öffnete die Tür und glitt ins
Freie.
Über die verstörte Miene der Buchhalterin
hätte sie beinahe gelacht. Aber dann wandte sie sich ab
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