Um Mitternacht am schwarzen Fluß
Ihre
eigene Jugend war entbehrungsreich und ziemlich freudlos gewesen. Alles, was
sie sich im Leben erobert hatte, war die angesehene Stellung bei den
Leihmeiers. Dafür hätte sie sich zerrissen. Und jetzt? Sie war in einer fürchterlichen
Situation.
Sie schloß ihren Schreibtisch ab,
verließ das Modehaus durch die rückseitige Hofeinfahrt und mußte nur wenige
Schritte gehen bis zu der Parkgarage, wo ihr Wagen wartete.
Während sie heimwärts fuhr, ließen die
beunruhigenden Gedanken nicht nach.
Was war mit Tanja? Hatte sie sich im
Wald verlaufen? Unmöglich! War sie verunglückt? Kaum anzunehmen. Also?
Bestimmt, dachte Dietlinde, hat dieser
Jan gelogen. Sie ist bei ihm, versteckt sich, und nachher machen sie einen
Mondscheinspaziergang und küssen sich ab, als wären sie schon 20 — oder
wenigstens 18. Natürlich! Das ist es. Und dafür soll ich meinen Kopf hinhalten?
Nein!
Oder war dem Mädchen doch was passiert?
Im Wald. Auf dem Rückweg zum Seehotel. Hatte sie einen giftigen Pilz gegessen —
roh? Oder war sie an einer übergroßen Brombeere erstickt?
Werd nicht albern, Dietlinde! dachte
sie. Du mußt an dich denken. Laß dir von ihr nicht zerstören, woran dein ganzes
Leben hängt. Du willst bei den Leihmeiers bleiben. Für immer. Jedenfalls bis
zur Frührente. Eine andere Stellung annehmen? Mein Gott! Wer weiß, was dich da
erwartet, Dietlinde! Nein!
Sie begann, nüchtern zu denken, während
sie ihren Wagen durch den abflauenden Verkehr lenkte.
Wenn Tanja zurückkehrte, unversehrt,
würde sie irgendwelche Lügen auftischen, um sich und ihren Freund nicht
reinzureißen. Dazu gehörte auch, daß sie Dietlindes Erklärung nicht
widersprach, sondern bei der Behauptung blieb, sie sei bis zu Dr. Geidmann
gebracht worden.
Das bedeutete, ihr, Dietlinde, konnte
nichts passieren.
Hatte aber das Schicksal gegen Tanja
entschieden und ihr was zugefügt, dann würde ein Geständnis jetzt auch nichts
mehr ändern, sondern nur das Leid vergrößern, nämlich sie, Dietlinde, zur
unzuverlässigen Person abstempeln.
Also bleibe ich bei dem, was ich gesagt
habe, dachte sie — und stellte erschrocken fest, daß sie sich verfahren hatte.
Längst hätte sie abbiegen müssen.
So was passierte, wenn man beim
Autofahren schicksalhafte Entscheidungen traf, statt auf den Weg zu achten.
Nehme ich also die nächste links,
dachte sie. Fahre ich durch die Turmacker-Straße und biege dann...
Sie stockte.
In der Turmacker hatte Dr. Geidmann
seine Praxis: angeblich der Ort, wo sie Tanja abgeliefert hatte.
Es war ihr unbehaglich, dort
vorbeizufahren.
Sei nicht dumm! dachte sie. Was hat die
Straße damit zu tun? Du bist doch kein Verbrecher, den es — wie immer behauptet
wird — zum Tatort zurückzieht.
Trotzdem! Sie beschloß, nicht durch die
Turmacker, sondern durch die Parallelstraße zu fahren.
Freilich hinderte sie das nicht daran,
hinüber zu schielen, als sie die Einmündung passierte.
Der Schreck kam zu plötzlich.
Abrupt trat sie auf die Bremse.
Da sie ohnehin langsam fuhr, stand der
Wagen sofort.
Hinter ihr kreischten Reifen. Das
Jaulen näherte sich. Sie spürte eine leichte Erschütterung, als ihr Wagen von
hinten gerammt wurde. Aber der Anprall war gering.
Der nachfolgende Wagen hatte zwar den
Sicherheitsabstand grob-fahrlässig verkürzt — aber wenigstens gute Bremsen.
Dietlinde schaltete den Motor aus. Sie
wollte aussteigen. Doch dazu kam es nicht mehr.
Ein rotes Gesicht erschien vor ihrer
halb geöffneten Seitenscheibe.
„Was, zum Teufel, ist denn mit Ihnen
los?“ brüllte der Mann. „Sie halten ohne jeden Grund. Wollten Sie eine kleine
Schikane (böswillig bereitete Schwierigkeit ) einbauen in den
Straßenverkehr, der ja sonst so langweilig ist? Oder was soll diese Neckerei,
Fräulein?“
Dietlinde suchte nach Worten. Ihr
schlug das Herz bis zum Hals. Teils wegen der Entdeckung, daß die
Turmacker-Straße eine Baustelle war. Teils wegen des Vorfalls.
„Ich...“, stammelte sie, „hatte
plötzlich einen Krampf im... Leib. Mir ist... gar nicht gut.“
„Tut mir leid.“ Das rote Gesicht
entspannte sich. „Sie kriegen wohl ein Baby, Fräulein?“
„Nein!“
„Dann trinken Sie Pfefferminztee. Der
entkrampft. Passiert ist zum Glück nichts. Meine Stoßstange hat ihre Stoßstange
nur sanft berührt. Wollen Sie sich davon überzeugen?“
„Ich glaube es Ihnen.“
„Also gute Besserung!“
Er sockte ab.
Blöder Kerl! dachte sie.
Im Rückspiegel sah sie, wie er in
seinen Wagen
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