Umgang mit Groessen - Meine Lieblingsdichter - und andere - Herausgegeben und mit einem Nachwort von Karl Heinz Bittel
Schneiderinnen rennen
will, hat er die Haushälterin einmal gefragt, die das ja auch nicht wußte.
Gott sei Dank hat sie später ihre Erinnerungen 35 an den großen Dichter niedergeschrieben, so wie die »kleine Madame« 36 des André Gide Bericht erstattete. Sie hat Privatestes überliefert, ohne intime Einzelheiten preiszugeben: die sonderbaren Vermögensverhältnisse – einmal hat er achthundertausend Francs durch Spekulationsgeschäfte verloren –, seine Unberechenbarkeiten und seine Dandy-Auftritte, jeden Tag ein neues Bettlaken und nichts als Milchkaffee und Hörnchen. Allerdings ging er hin und wieder auch aus. Es ist anzunehmen, daß er sich dann ausgiebig stärkte. Am Ende standen drei Ärzte um das Bett des Sterbenden, und sein Bruder, der Professor Robert Proust, hat ihm dann die Augen zugedrückt.
Man findet wohl kaum einen Menschen, der zugibt: Proust sagt mir nichts. Und doch muß man sich fragen, warum sein siebenbändiges Werk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« nicht in jedem Bücherschrank steht. Aber dies wundert uns auch bei Joyce’ »Ulysses«, und
daß aus der Erstauflage von Goethes »Iphigenie« noch im Jahr 1920 Exemplare käuflich erworben werden konnten, ist bekannt.
Proust hat, in der Abgeschiedenheit seines Krankenzimmers, besessen von der Flüchtigkeit des Augenblicks (die Zeit, die zerstört), sein bisheriges Leben aus Tausenden von Eindrücken neu zu erfühlen versucht (die Erinnerung, die bewahrt), mit Hilfe einer unvergleichlichen Assoziationsgabe. Zwar zeigt er uns auch die französische Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs, aber es geht um die verlorenen Paradiese, die, wie er einmal sagte, jeder nur in sich selbst wiederfinden könne.
Seine Rolle als Schriftsteller hat er mit der des Forschers Albert Einstein verglichen: das genaue Beobachten, der gewissenhafte Umgang mit den Tatsachen, die Suche nach Gesetzmäßigkeiten des Daseins. Proust, der von Anfang an nach einer Gesamtkonzeption vorging, sah seine Arbeit dem Bau einer Kathedrale verwandt, die nie fertig wird, an der immer noch das eine oder andere ausgeschmückt werden muß.
Joseph Roth
Kommen wir also zu Joseph Roth. Der rechtzeitig Gestorbene. Aah, die Österreicher! – Für uns Norddeutsche eine magische Persönlichkeit aus einer uns rätselhaft anziehenden Welt. Er gehörte zu den intelligenten Juden, die aus der europäischen Kulturgeschichte nicht wegzudenken sind. Sein Leben beschloß er in einem kleinen Pariser Café, saß an einem runden Tischchen, kritzelte die Servietten voll und trank Absinth dazu. Es gibt eine schöne Karikatur von ihm.
Geboren wurde er in Brody, Galizien. Sein Vater war Getreideeinkäufer und Holzhändler, der sich nach kurzer Ehe, noch vor der Geburt seines Sohnes, auf einer Geschäftsreise absetzte. Nach Studien in Wien, Militärdienst in seiner Heimat und der Veröffentlichung erster Feuilletons in Wiener und Prager Zeitungen, übersiedelte Joseph Roth in die Weltmetropole der zwanziger Jahre, nach Berlin also. Jeder kannte ihn, das war anders als heute, wo Schriftsteller allein vor sich hin werkeln. Man sah ihn mit Hermann Kesten und Gustav Landauer auf dem
Kurfürstendamm promenieren, mit Stefan Zweig war er befreundet.
Roth schrieb schnell, immer in Geldnot – ich versteh’ das nicht – und immer betrunken. Rauchen tat er natürlich auch. So derangiert er auch aussah, er hatte es mit den Uhren. Wo immer es ging, sammelte er sie und reparierte sie selbst. Es ist ja erstaunlich, was heutzutage alles ausgegraben wird. Die eigentlichen Entdeckungen stehen uns noch bevor. – Kürzlich wurden seine Berliner Lokalbeiträge veröffentlicht, seine Feuilletons. Ein interessantes Gegenstück zu den Jahre vorher entstandenen Berliner Reportagen von Alfred Kerr. Schön zu lesen, wie der kleine Mann seine Meinung äußert. Er hat gewiß Tausende von Briefen geschrieben in seinem Leben. Nur fünfhundert sind erhalten. Tagebuch scheint er nicht geführt zu haben.
Das dollste Stück hat er sich mit seiner Frau geleistet. Fotos zeigen die junge, hübsche Friederike, genannt Friedl, mit traurigen Augen. Alle waren baß erstaunt, wie er zu dieser Frau kam. Er wollte sie zur Dame machen und gab ihr Anstandsunterricht. Im Hotel schloß er sie ein, aus Eifersuchtsgründen. Seine Untreue und seine überscharfe Intelligenz setzten ihr zu. Aus endogenen Gründen oder hervorgerufen durch die drakonische Behandlung durch den Dichter umnachtete sich ihre Seele, und sie kam in eine
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