Unbefugtes Betreten
Jugendzeit, Jahre, in denen bei ihm Furcht und Misstrauen gegen die Welt gerade einer zögerlichen Liebe zum Leben weichen wollten, in denen das Leben in der Schwebe hing, bevor es unwiderruflich in die eine oder andere Richtung taumeln würde, in denen sich, wie ihm nun schien, eine letzte Chance bot, klar zu sehen, bevor man endgültig in die Notwendigkeit gestürzt wurde, inmitten von anderen man selbst zu sein, und alles viel zu schnell ging, um sich einrichtiges Urteil zu bilden. Aber damals, genau damals, hatte er das Durchschauen der Heuchelei und Falschheit des Erwachsenenlebens zu seiner besonderen Spezialität entwickelt. Nur gab es in seinem Dorf in Northamptonshire keinen erkennbaren Rasputin oder Himmler; daher musste die große moralische Fehlerhaftigkeit der Menschheit aus der möglicherweise nicht repräsentativen Stichprobe des elterlichen Freundeskreises erschlossen werden. Doch das machte seine Erkenntnisse umso wertvoller. Und es war ihm ein Vergnügen gewesen, die Laster aufzuspüren, die sich unter der scheinbar harmlosen, um nicht zu sagen nutzbringenden Tätigkeit der Gartenarbeit verbargen. Neid, Gier, Missgunst, das Geizen mit Lob sowie falsche, überschwängliche Lobhudelei, Zorn, Wollust, Habsucht und verschiedene andere Todsünden, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Mord? Tja, warum nicht? Bestimmt hatte irgendein Holländer einen anderen Holländer um die Ecke gebracht, um in den Besitz eines dieser überaus wertvollen Sprosse oder Knollen oder wie das gleich hieß – ach ja, Zwiebeln – zu gelangen, als dieser Wahnsinn grassierte, der als Tulpenmanie in die Geschichte einging.
Auf einer normaleren, anständig englischen Skala des Bösen hatte er festgestellt, dass selbst alte Freunde seiner Eltern bei einer Tour durch den Garten verkniffen und gehässig wurden mit ihrem ständigen »Wie habt ihr das hingekriegt, dass das so früh blüht?« und »Wo habt ihr das denn aufgetrieben?« und »Habt ihr ein Glück mit eurem Boden.« Er erinnerte sich an eine dicke alte Scharteke in Tweed-Reithosen, die eines frühen Morgens vierzig Minuten lang das 2000-Quadratmeter-Grundstück seiner Eltern inspizierte und sich bei der Rückkehr nur das selbstgefällige Bulletin abrang: »Bei euch hat der Frost offenbar etwas frühereingesetzt als bei uns.« Er hatte von ansonsten tugendhaften Bürgern gelesen, die mit versteckten Baumscheren und Wilderertaschen zum Verstauen der Beute die berühmten Gärten Englands besuchten. Kein Wunder, dass an den waldigsten und idyllischsten Orten des Landes jetzt häufig Überwachungskameras und uniformierte Posten aufgestellt waren. Pflanzenklau war ein Volkssport geworden, und vielleicht hatte er sich gar nicht des fröhlichen Schnees und der Weihnachtszeit wegen so schnell von dem Diebstahl des Lorbeerbaums erholt, sondern weil dadurch eine grundlegende moralische Erkenntnis seiner Jugendzeit bestätigt worden war.
Am Vorabend hatten sie draußen auf der vor Kurzem gelieferten Teakholzbank gesessen und sich eine Flasche Rosé geteilt. Ausnahmsweise war keine geistlose Musik aus einem Nachbarhaus, keine jaulende Autoalarmanlage, kein Flugzeugdonnern zu hören gewesen; da war einfach nur Stille, die dafür von ein paar verdammt lauten Vögeln gestört wurde. Über Vögel war Ken nicht recht auf dem Laufenden, aber er wusste, dass es erhebliche Verschiebungen bei den Arten gegeben hatte: viel weniger Spatzen und Stare als früher – nicht, dass er die einen oder die anderen vermisste; ebenso Schwalben und dergleichen; bei Elstern war es umgekehrt. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte oder woran es lag. Umweltverschmutzung, Schneckenkorn, Treibhauseffekt? Oder dieses verschlagene alte Biest namens Evolution. Außerdem gab es in vielen Londoner Parks auffallend viele Papageien – wenn es nicht doch Sittiche waren. Irgendein Zuchtpaar war entflohen, hatte sich vermehrt und die milden englischen Winter überlebt. Jetzt kreischten sie aus den Wipfeln von Platanen; er hatte sogar gesehen, wie sich einer am Vogelhäuschen eines Nachbarn festkrallte.
»Warummüssen diese Vögel so einen verdammten Lärm machen?«, fragte er in grüblerischem, theatralisch klagendem Ton.
»Das sind Amseln.«
»Ist das eine Antwort auf meine Frage?«
»Ja«, sagte sie.
»Würdest du das einem einfachen Jungen vom Lande bitte erklären? Warum sie so einen verdammten Krach machen müssen?«
»Sie behaupten ihr Territorium.«
»Kann man sein Territorium nicht behaupten,
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