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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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konnte man nur am Pullover erkennen. Und dann an den Knöpfen. Wer der Mann war.«
    »Daran hatte ich nicht gedacht.«
    »Tja, warum solltest du. Das wissen. Daran denken.«
    Manchmal hatte er das Gefühl, dies sei der fernste Ort, an dem er je gewesen war. Die Inselbewohner sprachen dieselbe Sprache wie er, aber das war nur ein seltsamer, geografischer Zufall.
    Diesmal behandelten ihn Calum und Flora so, wie er es erwartet hatte: mit dem Takt und der Zurückhaltung, die er einst auf seine dumme, englische Art mit Ehrerbietigkeit verwechselt hatte. Sie drängten sich nicht auf und stellten auch ihr Mitgefühl nicht zur Schau. Man klopfte ihm auf die Schulter, stellte einen Teller vor ihn hin, machte eine Bemerkung über das Wetter.
    Jeden Morgen gab Flora ihm ein in Butterbrotpapier eingewickeltes Sandwich, ein Stück Käse und einen Apfel mit. Er wanderte über das Machair und auf den Beinn Mhartainn. Er zwang sich, bis zum Gipfel hinaufzusteigen, von wo er die Insel und ihre gezähnten Umrisse sehen, wo er sich allein fühlen konnte. Dann machte er sich mit dem Fernglas in der Hand auf den Weg zu den Klippen und den Seevögeln. Calum hatte ihm einmal erzählt, vor Generationen habe man aus den Eissturmvögeln auf manchen Inseln Lampenöl gemacht. Komisch, dass er ihr das immer verschwiegen hatte, über zwanzig Jahre lang. Den Rest des Jahres dachte er überhaupt nicht daran. Dann kamen sie wiederauf die Insel, und er sagte sich, ich darf ihr nicht erzählen, was sie früher mit den Eissturmvögeln gemacht haben.
    In dem Sommer, in dem sie ihn fast verlassen hätte (oder hätte er sie fast verlassen? – aus dieser Entfernung war das schwer zu entscheiden), war er mit Calum Muscheln fangen gegangen. Sie hatte die beiden Männer ihrem Vergnügen überlassen und war lieber über den feuchten welligen Strand gewandert, den das Meer eben erst freigelegt hatte. Hier, wo die Kiesel kaum größer waren als Sandkörner, suchte sie gern nach bunten Glasstückchen – winzigen Scherben von zerbrochenen Flaschen, Scherben, die Wasser und Zeit rund und glatt geschliffen hatten. Jahrelang hatte er dem gebeugten Gang zugesehen, dem forschenden Niederkauern, dem Aufsammeln, dem Aussortieren, dem Horten in der hohlen linken Hand.
    Calum erklärte, wie man eine kleine Mulde im Sand ausfindig machte, etwas Salz hineinstreute und dann wartete, bis die Scheidenmuschel ein paar Zentimeter aus ihrem Versteck hervorschoss. An der linken Hand trug er einen Topfhandschuh als Schutz vor dem scharfen Rand der auftauchenden Muschelschale. Man müsse schnell zupacken, sagte er, und die Muschel herausziehen, ehe sie wieder verschwinde.
    Trotz Calums Kenntnissen rührte sich meist nichts, und sie nahmen sich die nächste Sandmulde vor. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie in einiger Entfernung am Strand entlangging, sie kehrte ihm den Rücken zu, war sich selbst genug, zufrieden mit dem, was sie tat, verschwendete keinen Gedanken an ihn.
    Während er Calum mehr Salz reichte und auf den Topfhandschuh schaute, der ihm erwartungsvoll hingehalten wurde,hörte er sich – von Mann zu Mann – sagen: »Bisschen so wie die Ehe, nicht?«
    Calum runzelte leicht die Stirn. »Wie meinst du das?«
    »Ach, man wartet darauf, dass etwas aus dem Sand hervorkommt. Dann stellt sich heraus, entweder ist gar nichts da, oder man muss höllisch aufpassen, dass es einem nicht die Hand zerschneidet.«
    Das war eine dumme Bemerkung gewesen. Dumm, weil er das eigentlich nicht ernst gemeint hatte, und ganz besonders dumm, weil es vermessen war. Das Schweigen sagte ihm, dass Calum solche Sprüche ungehörig fand, ihm gegenüber, Flora gegenüber, den Inselbewohnern insgesamt gegenüber.
    Er wanderte jeden Tag, und jeden Tag wurde er vom Nieselregen tropfnass. Er aß ein durchweichtes Sandwich und sah zu, wie die Eissturmvögel über das Meer strichen. Er wanderte nach Greian Head und schaute auf das Felsplateau hinunter, wo sich gerne die Robben versammelten. Einmal hatten sie hier einen Hund beobachtet, der vom Strand bis zum Plateau hinausschwamm, die Robben verjagte und dann über seinen Felsen stolzierte wie ein neuer Grundbesitzer. Dieses Jahr war kein Hund da.
    Auf dem schwindelerregenden Hang des Greian lag ein Teil eines unglaublichen Golfplatzes, auf dem sie, Jahr für Jahr, nie einen einzigen Golfspieler gesehen hatten. Es gab ein kleines rundes Grün mit einem Lattenzaun drum herum, der die Kühe fernhalten sollte. Einmal war ganz in der Nähe plötzlich eine

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