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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Seevögel, die Kormorane und Basstölpel, die Krähenscharben und Eissturmvögel. So manche Stunde saß er mit nassem Hintern geduldig auf den Klippen und stellte das Fernglas mit Daumen und Mittelfinger auf die pfeilschnellen Sturzflüge, das Emporschwingen in die Freiheit ein. Die Eissturmvögel waren seine besonderen Lieblinge. Vögel, die ihr ganzes Leben auf dem Meer verbrachten und nur zum Nisten an Land kamen. Dann legten sie ein einziges Ei, zogen das Junge auf und flogen wieder hinaus aufs Meer, glitten über den Wellen dahin, stiegen in Luftströmen auf, waren einfach sie selbst.
    Ihre Liebe galt eher den Blumen als den Vögeln. Grasnelken, Kleiner Klappertopf, Purpurwicken, Schwertlilien. Die Kleine Braunelle wurde, wie er sich erinnerte, auchSelf-heal genannt, weil sie angeblich die Selbstheilungskräfte aktivierte. Damit waren seine Kenntnisse wie seine Erinnerungen auch schon erschöpft. Sie hatte hier oder anderswo nie eine einzige Blume gepflückt. Wer eine Blume abschneidet, beschleunigt ihren Tod, sagte sie immer. Der Anblick von Vasen war ihr verhasst. Wenn andere Patienten im Krankenhaus den leeren Metallwagen vor ihrem Bett sahen, dachten sie, sie würde von ihren Freunden vernachlässigt, und wollten ihr die eigenen überzähligen Sträuße aufdrängen. Das ging so lange, bis sie ein eigenes Zimmer bekam und sich das Problem damit erledigte.
    In jenem ersten Jahr hatte Calum ihnen die Insel gezeigt. Eines Nachmittags schaute er an einem Strand, wo er gern nach der Schwertförmigen Scheidenmuschel grub, zur Seite und sagte fast so, als spräche er mit dem Meer: »Meine Großeltern haben mit einer einfachen Erklärung geheiratet. Mehr war in früheren Zeiten nicht erforderlich. Einverständnis und Erklärung. Man heiratete bei zunehmendem Mond und auflaufender Flut, das sollte Glück bringen. Und nach der Hochzeit lag in einem Nebengebäude eine raue Matratze auf dem Fußboden bereit. Für die erste Nacht. Weil man die Ehe in Demut und Bescheidenheit beginnen sollte.«
    »Das ist doch wunderbar, Calum«, hatte sie gesagt. Er aber hatte das als Zurechtweisung empfunden – für ihre englischen Sitten, ihre Vermessenheit, ihre stillschweigende Lüge.
    Im zweiten Jahr waren sie wenige Wochen nach der Hochzeit wiedergekommen. Am liebsten hätten sie es aller Welt erzählt; doch hier an diesem Ort ging das nicht. Vielleicht war das nur gut für sie – ganz verrückt vor Glück zu sein undzum Schweigen gezwungen. Vielleicht war das ihre Art, die Ehe in Demut zu beginnen.
    Dennoch konnte er spüren, dass Calum und Flora es erraten hatten. In Anbetracht ihrer neuen Kleider und ihres dämlichen Grinsens war das sicher nicht schwer. Am ersten Abend schenkte Calum ihnen Whisky aus einer Flasche ohne Etikett ein. Er hatte viele solcher Flaschen. Auf dieser Insel wurde weitaus mehr Whisky getrunken als verkauft, so viel stand fest.
    Flora hatte einen alten Pullover aus einer Schublade geholt, der ihrem Großvater gehört hatte. Sie legte ihn auf den Küchentisch und strich ihn mit den Händen glatt. In früheren Zeiten, erläuterte sie, hatten die Frauen auf diesen Inseln mit ihren Strickarbeiten Geschichten erzählt. Das Muster dieses Pullovers zeigte, dass ihr Großvater von Eriskay stammte, während die Einzelheiten, die Verzierungen etwas über das Fischen und den Glauben aussagten, über das Meer und den Sand. Und diese Zickzacklinie an der Schulter – seht ihr, diese hier – stellte die Höhen und Tiefen der Ehe dar. Das waren buchstäblich Beziehungsmuster.
    Zickzacklinien. Wie jedes frisch verheiratete Paar hatten sie einen Blick von geheimer Zuversicht gewechselt in der Gewissheit, dass es für sie keine Tiefen geben würde – zumindest nicht solche wie bei ihren Eltern oder den Freunden, die schon jetzt die üblichen dummen, absehbaren Fehler begingen. Sie würden anders sein; sie würden anders sein als alle, die jemals geheiratet hatten.
    »Erzähl ihnen von den Knöpfen, Flora«, sagte Calum.
    Das Muster verriet, von welcher Insel der Besitzer des Pullovers kam; die Knöpfe am Hals verrieten genau, aus welcher Familie er stammte. Das war ja, als liefe man mit seiner Postleitzahl bekleidet herum, hatte er gedacht.
    Ein,zwei Tage später sagte er zu Calum: »Ich wünschte, alle würden immer noch solche Pullover tragen.« Da er selbst keinen Sinn für Tradition hatte, fand er es schön, wenn andere Traditionsbewusstsein zeigten.
    »Sie waren sehr nützlich«, antwortete Calum. »Viele Ertrunkene

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