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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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auch auf ihn stumm das Glas.«
    Es folgte das übliche Hin und Her, dann zogen wir uns die Mäntel an, umarmten und küssten einander und machten uns auf den Weg zur U-Bahn-Station und zum Klein-taxi-Stand.
    »Das Feuer hat ja toll gerochen«, sagte Sue.
    »Und diesmal gab es nichts aus dem Maul einer toten Kuh zu essen«, sagte Tony.
    »Komisches Gefühl, dass wir 2060 alle tot sein werden«, sagte Dick.
    »Ach, wenn du dir solche Sprüche doch nur verkneifen würdest«, sagte Carol.
    »Wir sehen uns, Leute«, sagte Larry. »Ich muss da lang.«
    »Wir sehen uns«, antworteten die meisten von uns.

Beziehungsmuster
    ____
    Beim Start in Glasgow war die Twin Otter nur halb besetzt: einige Inselbewohner, die von der Hauptinsel zurückkehrten, dazu ein paar frühe Wochenendurlauber mit Wanderstiefeln und Rucksäcken. Fast eine Stunde lang flogen sie dicht über den wechselnden Gehirnwindungen der Wolkenlandschaft. Dann setzten sie zur Landung an, und unter ihnen tauchten die gezähnten Umrisse der Insel auf.
    Diesen Moment hatte er immer geliebt. Die schmale Landzunge, die lange Atlantikküste von Traigh Eais, der große weiße Bungalow, den sie rituell beinahe streiften, dann eine langsame Kehre über der kleinen buckligen Insel Orosay und endlich der Anflug auf die flache glitzernde Weite von Traigh Mhòr. In den Sommermonaten konnte man sich gewöhnlich darauf verlassen, dass eine laute Stimme von der Hauptinsel, vielleicht um einer Freundin zu imponieren, durch den Propellerlärm brüllte: »Die einzige Strandlandebahn für Verkehrsflugzeuge weltweit!« Doch im Laufe der Jahre hatte er gelernt, selbst das nachsichtig hinzunehmen. Es gehörte zur Folklore der Ankunft hier.
    Sie setzten hart auf dem mit Muschelschalen übersäten Strand auf, und während sie durch flache Wasserlachen rasten,sprühte zwischen den Flügelstreben Gischt auf. Dann drehte das Flugzeug parallel zu dem kleinen Abfertigungsgebäude bei, und kurz darauf stiegen sie die wackelige Metallleiter hinunter zum Strand. Ein Traktor mit einem flachen Anhänger stand bereit, um ihr Gepäck die wenigen Meter zu einem feuchten Betonsockel zu ziehen, der als Gepäckband diente. Sie, ihr: Er wusste, er musste anfangen, sich stattdessen ein Pronomen im Singular anzugewöhnen. Das würde von nun an die Grammatik seines Lebens sein.
    Calum erwartete ihn schon und taxierte über seine Schulter hinweg die anderen Passagiere. Dieselbe schmale grauhaarige Gestalt im grünen Anorak, die sie jedes Jahr abholte. Wie es Calums Art war, stellte er keine Fragen; er wartete. Seit etwa zwanzig Jahren bestand zwischen ihnen eine Art vertrauter Förmlichkeit. Doch jetzt waren diese Regelmäßigkeit, diese Wiederholung und alles, was sie in sich schloss, zerbrochen.
    Während der Wagen über die einspurige Landstraße kroch und höflich in den Ausweichbuchten wartete, erzählte er Calum die Geschichte, die er bereits bis zur Erschöpfung wiederholt hatte. Die plötzliche Müdigkeit, die Schwindelanfälle, die Blutuntersuchungen, die Computertomografien, Krankenhausaufenthalt, weitere Krankenhausaufenthalte, das Hospiz. Die Schnelligkeit des Ganzen, der Verlauf, der gnadenlose Gang der Ereignisse. Er erzählte das ohne Tränen, in neutralem Ton, als wäre es einem anderen passiert. Anders konnte er es bisher noch nicht.
    Vor dem dunklen Steincottage zog Calum heftig die Handbremse an. »Möge sie in Frieden ruhen«, sagte er leise und nahm sich des Gepäcks an.
    Alssie das erste Mal auf die Insel kamen, waren sie noch nicht verheiratet. Sie hatte einen Ehering getragen als Zugeständnis an … was eigentlich? Die Inselmoral, wie sie beide sie sich vorstellten? So fühlten sie sich überlegen und heuchlerisch zugleich. Ihr Zimmer in Calum und Floras Bed & Breakfast hatte weiß getünchte Wände, getrocknete Regentropfen am Fenster und einen Blick über das Machair bis zum steilen Anstieg des Beinn Mhartainn. In der ersten Nacht entdeckten sie, dass sich das Bett mit lautem Geheul gegen alle Aktivitäten sträubte, die über das für die nüchterne Empfängnis von Kindern erforderliche Minimum hinausgingen. Sie fühlten sich auf komische Art eingeschränkt. Inselsex hatten sie das genannt und dabei leise in den Körper des anderen hineingekichert.
    Er hatte sich damals extra für diese Reise ein neues Fernglas gekauft. Im Innern der Insel gab es Lerchen und Berghänflinge, Steinschmätzer und Bachstelzen. An der Küste Sandregenpfeifer und Pieper. Vor allem aber liebte er die

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