Unbefugtes Betreten
gebundene Notizbuch, in dem schon so viele Modelle ihre Kommentare festgehalten, Lob und Tadel, Weisheiten und Torheitenzum Ausdruck gebracht hatten. Er hätte das Büchlein sehr wohl auf einer beliebigen Seite aufschlagen und seinen Kunden auf eine Bemerkung deuten lassen können, die ein Vorgänger zehn oder zwanzig Jahre zuvor hinterlassen hatte. Bislang waren die Ansichten dieses Zolleinnehmers nicht origineller gewesen als seine Westenknöpfe, wenn auch weniger interessant. Zum Glück wurde Wadsworth dafür bezahlt, dass er Westen abbildete und keine Ansichten. Die Sache war natürlich komplizierter: Im Grunde war die Darstellung von Weste und Perücke und Kniebundhose die Darstellung einer Ansicht, ja, eines ganzen Korpus von Ansichten. Weste und Hose zeigten den Körper dahinter, so wie Perücke und Hut das Gehirn dahinter zeigten, auch wenn es in manchen Fällen eine bildhafte Übertreibung war, den Eindruck entstehen zu lassen, dass überhaupt ein Gehirn dahinter liege.
Er würde diese Stadt mit Freuden verlassen, seine Pinsel und Leinwände, seine Farben und seine Palette in den kleinen Karren packen, seine Stute satteln und dann aufbrechen über die Waldwege, die ihn in drei Tagen nach Hause bringen würden. Dort würde er ausruhen und nachdenken und sich vielleicht zu einem anderen Leben entschließen, ohne die stete Mühe und Plage eines Wanderkünstlers. Eines Hausierers, und auch eines Bittstellers. Wie immer war er in diese Stadt gekommen, hatte sich bei Nacht ein Quartier gesucht und eine Annonce in die Zeitung gesetzt, die auf seine Fähigkeit, seine Preise und seine Anwesenheit hinwies. »Sollte es binnen sechs Tagen keine Nachfrage geben«, hieß es am Ende der Annonce, »wird Mr Wadsworth die Stadt verlassen.« Er hatte die kleine Tochter eines Tuchwarenhändlers gemalt und dann den Diakon Zebediah Harries, der ihm in seinem Haus christliche Gastfreundschafterwiesen und ihn an den Zolleinnehmer empfohlen hatte.
Mr Tuttle hatte ihm kein Quartier angeboten; aber der Portraitist schlief bereitwillig im Stall in Gesellschaft seiner Stute und aß in der Küche. Und dort war es dann am dritten Abend zu diesem Vorfall gekommen, gegen den zu protestieren er unterlassen – oder sich nicht in der Lage gefühlt – hatte. Dieser Vorfall hatte ihm eine unruhige Nacht beschert. Er hatte ihn auch verletzt, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Wadsworth hätte den Zolleinnehmer als einen Flegel und Grobian – von der Sorte hatte er im Laufe der Jahre genug gemalt – abtun und die Angelegenheit vergessen sollen. Vielleicht sollte er ernsthaft erwägen, sich zur Ruhe zu setzen, seine Stute fett werden zu lassen und von dem zu leben, was er an Früchten anbauen und an Vieh heranzüchten konnte. Er konnte es immer noch zu seinem Beruf machen, Fenster und Türen zu streichen statt Menschen zu malen; er hielt das nicht für unter seiner Würde.
Am ersten Vormittag hatte Wadsworth den Zolleinnehmer mit dem Notizbuch bekannt machen müssen. Wie viele andere meinte der Mann, er müsse nur den Mund weiter aufreißen, um eine Verständigung zu erreichen. Wadsworth sah zu, wie die Feder über die Seite wanderte und dann der Zeigefinger ungeduldig klopfte. »Wenn Gott gnädig ist«, schrieb der Mann, »werden Sie im Himmel vielleicht hören.« Als Antwort lächelte er leicht und nickte kurz, was man als Überraschung und Dankbarkeit hätte auslegen können. Er hatte diesen Gedanken schon viele Male gelesen. Oft war er ein wahrhaftiger Ausdruck christlichen Mitgefühls und teilnahmsvoller Hoffnung; manchmal, wie jetzt, bedeutete er kaum verhohlenes Entsetzen darüber, dass es auf dieser Welt Menschen mit solch hinderlichenGebrechen gab. Mr Tuttle gehörte zu den Herren, die sich ihre Diener stumm, taub und blind wünschten – es sei denn, es kam ihnen anders besser zupass. Natürlich waren Herren und Diener jetzt, da die gerechtere Republik ausgerufen war, zu Bürgern und Hauspersonal geworden. Doch damit waren Herren und Diener so wenig ausgestorben wie die grundlegenden Veranlagungen des Menschen.
Wadsworth glaubte nicht, dass er unchristlich über den Zolleinnehmer urteilte. Seine Meinung hatte sich bei der ersten Begegnung herausgebildet und an jenem dritten Abend bestätigt. Der Vorfall war umso grausamer gewesen, als er ein Kind betraf, einen Gärtnerburschen, noch kaum im verständigen Alter. Der Portraitist war Kindern liebevoll zugetan: um ihrer selbst willen, weil es ihm wohltat, dass sie über sein Gebrechen
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