Unbefugtes Betreten
hinwegsahen, und auch, weil er selbst keine Nachkommen hatte. Er hatte nie die Gemeinschaft mit einer Ehefrau gekannt. Vielleicht könnte er das noch nachholen, aber er müsste dafür Sorge tragen, dass die Frau über das gebärfähige Alter hinaus wäre. Er konnte sein Gebrechen nicht an andere weitergeben. Manch einer hatte ihm zu erklären versucht, seine Ängste seien unnötig, da die Behinderung nicht bei der Geburt eingetreten war, sondern nach einem Anfall von Fleckfieber, als Wadsworth ein Knabe von fünf Jahren gewesen war. Und habe er nicht im Übrigen, so redete man auf ihn ein, seinen Weg in der Welt gemacht, und solle sein Sohn, von welcher Konstitution auch immer, dies nicht auch können? Das mochte wohl sein, aber wenn es nun eine Tochter wäre? Der Gedanke, ein Mädchen müsse sein Leben außerhalb menschlicher Gemeinschaft verbringen, war ihm unerträglich. Sicher, ein Mädchen könnte zu Hause bleiben, und sie wären einander mitfühlend verbunden.Doch was sollte aus einem solchen Kind werden, wenn er einmal tot war?
Nein, er würde nach Hause zurückkehren und seine Stute malen. Das hatte er immer vorgehabt, und jetzt würde er es vielleicht ausführen. Die Stute begleitete ihn seit zwölf Jahren, verstand ihn ohne Mühe und störte sich nicht an den Geräuschen, die aus seinem Munde kamen, wenn sie im Wald allein waren. Sein Plan sah so aus: Er wollte die Stute malen, auf einer Leinwand von derselben Größe wie der für Mr Tuttle, nur im Querformat; und danach würde er eine Decke über das Bild werfen und es erst beim Tod der Stute enthüllen. Es war vermessen, die alltägliche Realität von Gottes lebendiger Schöpfung mit einer menschlichen Nachbildung von unzulänglicher Hand zu vergleichen – auch wenn eben dies der Zweck war, zu dem ihn seine Kunden engagierten.
Er dachte nicht, dass es leicht werden würde, die Stute zu malen. Ihr würde die Geduld und auch die Eitelkeit fehlen, mit einem stolz erhobenen Huf für ihn zu posieren. Doch andererseits würde die Stute auch nicht die Eitelkeit besitzen, vorzutreten und die Leinwand zu begutachten, während er daran arbeitete. Eben dies tat nun der Zolleinnehmer, er beugte sich über Wadsworths Schulter, guckte und zeigte. Irgendetwas gefiel ihm nicht. Wadsworth blickte auf, von dem unbewegten zu dem bewegten Gesicht hin. Er besaß zwar eine ferne Erinnerung an Sprechen und Hören und war der Schrift kundig, doch er hatte nie gelernt, Wörter vom Munde abzulesen. Wadsworth hob seinen feinsten Pinsel von dem Ornament des Westenknopfs und ließ den Blick zu dem Notizbuch wandern, während der Zolleinnehmer seine Feder eintunkte. »Mehr Würde«, schrieb der Mann, und dann unterstrich er seine Worte.
Wadsworthmeinte, er habe Mr Tuttle bereits Würde genug verliehen. Er hatte seinen Körper größer, seinen Bauch kleiner gemacht, über die haarigen Muttermale auf dem Nacken hinweggesehen und sich insgesamt bemüht, Griesgrämigkeit als Fleiß, Jähzorn als charakterliche Festigkeit darzustellen. Und jetzt verlangte der Mann noch mehr davon! Das war eine unchristliche Forderung, und es wäre unchristlich von Wadsworth, sich diesem Verlangen zu fügen. Vor dem Auge Gottes würde es dem Mann keinen Dienst erweisen, wenn der Portraitist ihm erlaubte, sich von all der geforderten Würde geschwellt zu zeigen.
Er hatte Säuglinge gemalt, Kinder, Männer und Frauen und sogar Leichen. Dreimal hatte er seine Stute zu einem Totenbett getrieben, wo er eine Wiederauferstehung vollbringen sollte – jemanden als Lebenden darstellen, den er gerade als Toten angetroffen hatte. Wenn er dazu fähig war, dann sollte er wohl auch fähig sein, die Lebendigkeit seiner Stute wiederzugeben, wenn sie mit dem Schwanz nach den Fliegen schlug oder ungeduldig den Hals reckte, während Wadsworth den kleinen Malerkarren rüstete, oder die Ohren spitzte, wenn er Geräusche zum Wald hin machte.
Früher einmal hatte er versucht, sich anderen Sterblichen durch Gesten und Laute verständlich zu machen. Und wirklich ließen sich einige einfache Handlungen leicht vorführen: So konnte er einem Kunden etwa zeigen, welche Stellung dieser womöglich einzunehmen wünschte. Doch andere Gesten führten oft zu einem demütigenden Ratespiel; und die Laute, die er von sich geben konnte, brachten nicht zum Ausdruck, worin sein Anliegen bestand oder dass er gleichfalls ein Mensch war, Teil der Schöpfung des Allmächtigen, wenn auch anders geschaffen.Frauen fanden seine Laute genierlich,
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