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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Herde von Ochsen auf sie beide losgegangen, und sie hatte furchtbare Angst gehabt. Er hatte seinen Mann gestanden, wild mit den Armen gerudert, instinktiv die Namen der Politiker geschrien, die er am meisten verachtete, und war irgendwie gar nicht überraschtgewesen, dass das die Tiere beruhigt hatte. Dieses Jahr waren keine Ochsen zu sehen, und er vermisste sie. Wahrscheinlich waren sie längst geschlachtet.
    Er erinnerte sich an einen Kleinbauern auf Vatersay, der ihnen von dem Verfahren der »faulen Beete« erzählt hatte. Man legte einen Streifen im Moor frei, pflanzte die Kartoffeln in den offenen Boden, deckte sie mit dem umgedrehten Aushub wieder zu – fertig. Den Rest erledigten Zeit, Regen und Sonnenwärme. Faule Beete – er sah, wie sie ihn anlachte und seine Gedanken las, und später sagte sie, das wäre wohl seine Vorstellung von Gartenarbeit, nicht wahr? Er erinnerte sich, dass ihre Augen geglänzt hatten wie der feuchte Glasschmuck, den sie in der Hand sammelte.
    Am letzten Morgen fuhr ihn Calum mit dem Wagen nach Traigh Mhòr zurück. Die Politiker hatten eine neue Start- und Landebahn versprochen, damit auch moderne Flugzeuge hier landen konnten. Es wurde von touristischer Erschließung und einer Wiederbelebung der Insel geredet, verbunden mit Warnungen wegen der laufenden Subventionskosten. Calum wollte von alldem nichts wissen, und er auch nicht. Er wusste, für ihn musste die Insel so ruhig und unveränderlich bleiben wie nur irgend möglich. Wenn hier erst Jets auf einer richtigen Rollbahn landeten, würde er nicht wiederkommen.
    Am Schalter gab er seine Reisetasche auf, und sie gingen nach draußen. Calum beugte sich über eine kleine Mauer und zündete sich eine Zigarette an. Sie schauten auf den feuchten buckligen Sand des Muschelstrands hinaus. Die Wolken lagen tief, der Windsack hing schlaff herab.
    »Die sind für dich«, sagte Calum und gab ihm ein halbes Dutzend Postkarten. Er musste sie eben erst im Café gekauft haben. Ansichten von der Insel, dem Strand, dem Machair;eins von genau dem Flugzeug, das jetzt bereitstand, um ihn wegzubringen.
    »Aber ...«
    »Du wirst die Erinnerung brauchen.«
    Wenige Minuten später flog die Twin Otter schon geradewegs über Orosay und das offene Meer davon. Es gab keinen Abschiedsblick auf die Insel, ehe die Welt unter ihm verschwand. Von Wolken eingehüllt, dachte er über Beziehungsmuster und Knöpfe nach; über Scheidenmuscheln und Inselsex; über fehlende Ochsen und über Eissturmvögel, aus denen Öl gemacht wurde; und dann, endlich, kamen die Tränen. Calum hatte gewusst, dass er nicht wiederkommen würde. Aber darum weinte er nicht, auch nicht um sich selbst, nicht einmal um sie oder ihre gemeinsamen Erinnerungen. Es waren Tränen um seine eigene Dummheit. Und seine Vermessenheit.
    Er hatte geglaubt, er könne sich das Vergangene wieder zu eigen machen und dann langsam Abschied nehmen. Er hatte gedacht, Kummer ließe sich lindern, oder wenn nicht lindern, dann wenigstens beschleunigen, ein bisschen vorantreiben, wenn er an einen Ort zurückkehrte, an dem sie glücklich gewesen waren. Aber er konnte nicht über den Kummer gebieten. Der Kummer gebot über ihn. Und in den kommenden Monaten und Jahren würde ihm der Kummer vermutlich noch viele andere Lehren erteilen. Dies war nur die erste.

Teilzwei

DerPortraitist
    ____
    Mr Tuttle hatte von Anfang an gestritten: um die Entlohnung – zwölf Dollar –, die Größe der Leinwand und den Prospekt, der im Fenster zu sehen sein sollte. Über Pose und Kostüm war man sich zum Glück rasch einig geworden. Hierbei war Wadsworth dem Zolleinnehmer gern gefällig; auch wollte er ihm gern, soweit sein Geschick es zuließ, das Aussehen eines Gentleman verleihen. Das war schließlich sein Geschäft. Er war Portraitist, aber auch Handwerker und wurde nach Handwerkstarif dafür bezahlt, das anzufertigen, was dem Kunden gefiel. In dreißig Jahren würde sich kaum einer erinnern, wie der Zolleinnehmer ausgesehen hatte; wenn er dereinst das Zeitliche gesegnet hätte, würde allein dieses Portrait an seine physische Gestalt gemahnen. Und nach Wadsworths Erfahrung legte seine Kundschaft größeren Wert darauf, als gesetzte gottesfürchtige Männer und Frauen dargestellt zu werden, als ein wahrhaftiges Abbild zu erhalten. Das bekümmerte ihn nicht.
    Aus dem Augenwinkel wurde Wadsworth gewahr, dass sein Kunde etwas gesagt hatte, doch er wandte den Blick nicht von seiner Pinselspitze. Stattdessen wies er auf das

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