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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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während er sich bis auf die Unterhose auszog und sich unter ein Papiertuch mit einer Wolldecke darüber legte.
    »Alles sehr professionell«, berichtete er. »Zuerst fühlt sie deine Pulse. In der chinesischen Medizin gibt es sechs Pulse, auf jeder Seite drei. Aber die am linken Handgelenk sind wichtiger, weil sie den wesentlichen Organen zugeordnet sind – Herz, Leber und Nieren.«
    Ich sagte nichts – ich merkte nur, wie meine Besorgnis wuchs. Und mein Vater spürte wahrscheinlich, was in mir vorging.
    »Ich habe zu Mrs Rose gesagt: ›Ich sollte Sie warnen, ich bin etwas skeptisch‹, und sie hat gesagt, das macht nichts, weil Akupunktur hilft, egal, ob man dran glaubt oder nicht.«
    Nur dauert es bei Skeptikern vermutlich länger und kostet daher mehr Geld. Das behielt ich auch für mich. Stattdessen ließ ich Dad erzählen, wie Mrs Rose seinen Rücken ausmaß und mit einem Filzstift markierte, dann kleine Häufchen von irgendeinem Zeug auf die Haut setzte und die anzündete, und er sollte Bescheid sagen, wenn er die Hitze spürte, dann würde sie die Häufchen wegnehmen. Dann wurde weiter ausgemessen und mit Filzstift markiert, und sie steckte Nadeln in ihn rein. Alles ging sehr hygienisch zu, und sie legte die gebrauchten Nadeln in einen besonderen Behälter.
    Am Ende der Stunde ging sie hinaus, er zog sich wieder an und bezahlte fünfundfünfzig Pfund. Dann ging er in den Supermarkt und kaufte fürs Abendessen ein. Er schilderte uns, wie er da leicht benommen stand und nicht wusste, was er wollte – oder vielmehr alles wollte, was er vor sich sah. Er wanderte herum, kaufte alles Mögliche,kam erschöpft nach Hause und musste sich hinlegen.
    »Du siehst also, es wirkt offenbar.«
    »Du meinst, du hast dein Abendessen gerochen?«
    »Nein, dazu ist es noch zu früh – das war erst meine erste Behandlung. Ich meine, es hat eindeutig eine Wirkung. Körperlich und geistig.«
    Ich dachte bei mir: Sich müde fühlen und Essen kaufen, das man gar nicht braucht, das soll ein Heilungserfolg sein?
    »Was meinst du, Mum?«
    »Ich bin ganz dafür, dass er mal etwas anderes ausprobiert, wenn er will.« Sie tätschelte über den Tisch hinweg seinen Arm, ungefähr an der Stelle, wo seine geheimnisvollen neuen Pulse verborgen lagen. Ich hätte nicht zu fragen brauchen – sie hatten bestimmt alles vorher erörtert und waren zu einem gemeinsamen Schluss gekommen. Und wie ich inzwischen sehr gut wusste, hatte die Methode ›teile und herrsche‹ bei meinen Eltern nie Erfolg.
    »Wenn es wirkt, probiere ich das vielleicht auch an meinem Knie aus«, fügte sie hinzu.
    »Was ist denn mit deinem Knie, Mum?«
    »Ach, das ist irgendwie verdreht. Ich bin gestolpert und habe es mir an der Treppe angeschlagen. Ich werde auf meine alten Tage etwas wackelig auf den Beinen.«
    Meine Mutter war achtundfünfzig. Sie hatte breite Hüften und einen guten niedrigen Schwerpunkt, und sie trug nie unvernünftige Schuhe.
    »Du meinst, das ist schon öfter passiert?«
    »Es ist nichts. Nur das Alter. Irgendwann trifft es uns alle.«
    Janice hat einmal gesagt, bei Eltern könne man nie wissen. Ich hab sie gefragt, was sie damit meine. Sie hat geantwortet,wenn man so weit sei, dass man sie verstehen könne, sei es sowieso zu spät. Man könne nie herausfinden, wie sie gewesen seien, bevor sie sich kennenlernten, als sie sich kennenlernten, bevor man gezeugt wurde, danach, als man ein kleines Kind war ...
    »Kinder verstehen oft eine Menge«, sagte ich. »Instinktiv.«
    »Sie verstehen das, was die Eltern sie verstehen lassen.«
    »Da bin ich anderer Meinung.«
    »Soll mir recht sein. Es ändert nichts an der Sache. Wenn du dich endlich imstande fühlst, deine Eltern zu verstehen, ist fast alles Wichtige in ihrem Leben schon passiert. Sie sind, wie sie sind. Besser gesagt, sie sind, wie sie sein wollen – für dich, wenn du dabei bist.«
    »Da bin ich anderer Meinung.« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern, wenn sie die Tür hinter sich zugemacht hatten, andere Menschen wurden.
    »Wie oft siehst du deinen Vater als einen bekehrten Alkoholiker an?«
    »Nie. So sehe ich ihn nicht. Ich bin sein Sohn, kein Sozialarbeiter.«
    »Genau. Du willst ihn also einfach nur als einen Vater sehen. Niemand ist einfach nur ein Vater, nur eine Mutter. So funktioniert das nicht. Womöglich gibt es im Leben deiner Mutter ein Geheimnis, von dem du überhaupt nichts ahnst.«
    »Mach dich nicht lächerlich«, sagte ich.
    Sie sah mich an. »Ich glaube, die

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