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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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beschäftigt ist. Er hat sie schon oft hinter den Scheiben der Busse gesehen, die Gesichter von Leuten, die den ganzen Tag im Kreis herumfahren – vielleicht, um im Warmen und Trockenen zu sitzen, oder weil sie vergessen haben, wo sie wohnen. Aber im Grunde läuft es sowieso auf das Gleiche hinaus.
    Überhaupt kommt ihm das Ganze vor wie ein grausamer Witz. »So, jetzt bist du endlich alt genug, dass du nichts mehr damit anfangen kannst – hier hast du deine Seniorenkarte! Du bist gebrechlich, ans Haus gefesselt? Bitte schön, freie Fahrt im Gesamtnetz.« So viel zum Thema Geschenk von Vater Staat.
    Sicher ist es schön, dass er jetzt in jeden Bus einsteigen und neue Stadtteile erkunden kann, aber er hat Jahre gebraucht, um die sichersten Wege durch sein eigenes Viertel auszukundschaften. Es wäre tödlicher Leichtsinn, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen. Er wäre leichte Beute für gewalttätige Rowdys und läge schnell erschlagen zwischen irgendwelchen Mülltonnen.
    Vielleicht ist ja genau das der Sinn der Sache. In Wahrheit ist es gar keine Seniorenkarte, sondern ein Werkzeug zur Eindämmung der Rentnerzahlen. Indem man die noch halbwegs aktiven und mobilen Alten ausmerzt, bleiben zuletzt nur noch die Schwachen übrig. Dann reicht eine anständige Kältewelle, und der Staat ist sie los.
    Obwohl es ihm heute Morgen noch zu peinlich war, die Karte im Bus vorzuzeigen, will er sie auf dem Nachhauseweg nun doch ausprobieren – nachdem er allen anderen Passagieren den Vortritt gelassen hat. Wahrscheinlich reicht dem Fahrer ein lässiger Blick, um ihn postwendend wieder auf die Straße zu befördern. »Sie? Rentner? Dass ich nicht lache. Raus mit Ihnen!«
    Aber nein, der Mann winkt ihn einfach durch. Er hat verquollene Augen, als wäre er gerade aus dem Tiefschlaf erwacht, und auf seiner Brust zeichnet sich ein verdächtig feuchter Fleck ab.
    »Und das war’s schon?«, fragt Albert.
    »Was war was?«, knurrt der Fahrer.
    Albert hält ihm noch einmal die Karte hin. »Es ist bloß, weil ich mich damit noch nicht so richtig auskenne. Ich hab sie heute erst bekommen.«
    »Und? Soll ich Ihnen jetzt etwa ein Geburtstagsständchen bringen?« Er fährt so ruckartig an, dass Albert durch den halben Bus geschleudert wird.
    Nachdem er sich auf einen der wenigen freien Plätze gesetzt hat, merkt er, dass er auf allen Seiten von Rentnern umgeben ist, als wäre der Bus ein mobiles Ghetto.
    »Am besten suchen Sie sich immer schnell einen Platz, bevor der Bus losfährt«, sagt die alte Dame, die neben ihm sitzt. Sie hat eine sanfte Stimme und einen gütigen Blick. Die dünnen weißen Haarsträhnen, die unter ihrem Kopftuch hervorlugen, wehen sacht im leisen Fahrtwind. »Der Mann glaubt, er wäre Rennfahrer, das ist das Problem.«
    »Normalerweise sitze ich oben«, antwortet Albert.
    »Sind Sie wahnsinnig? Da rotten sich doch die halbstarken Rabauken zusammen. Ich hab sie gesehen. Und gehört hab ich auch schon, wie sie auf dem Oberdeck rumstampfen und rumbrüllen …« Sie bricht ab, doch als Albert schon glaubt, sie hätte den Faden verloren, redet sie genauso plötzlich weiter, wie sie verstummt ist. »Wissen Sie, was ich machen würde, wenn ich der Fahrer wäre? Ich würde mir eine richtig niedrige Brücke suchen und Vollgas geben.« Sie schlägt sich mit der Faust in die offene Hand, um zu unterstreichen, was für eine Art von Blutbad ihr vorschwebt. »Das wäre denen eine Lehre.«
    Wie zum Beispiel die, alte Frauen keine Busse lenken zu lassen, denkt Albert.
    Er lächelt sie an. »Wenn ich Sie mal hinter dem Lenkrad entdecke, denke ich daran, mich lieber nicht nach oben zu setzen.«
    »Sehr gut. Bei mir gibt’s nämlich keine Vorwarnung. Überrumpelung ist der Schlüssel eines jeden erfolgreichen Angriffs.« Sie nickt zufrieden mit dem Kopf. »Wenn ich könnte, würde ich sie in Grund und Boden bomben …«
    Albert dreht sich suchend nach einem anderen freien Platz um.
    »Ich glaube, ich ziehe nach hinten um«, sagt er. Er will sie nicht kränken. »Das äh … das Geruckel vom Motor ist … äh, gut für mein Rheuma.«
    Die Frau sieht ihn fasziniert von der Seite an. Das ist offenbar ein Tipp, den sie unbedingt weitergeben muss. Bevor sie Albert darüber ausfragen kann, schlurft er schon durch die Sitzreihen nach hinten. Der Bus kurvt mit solchem Tempo durch die Straßen von Südlondon, dass er sich an den Rückenlehnen festhalten muss.
    Hinten ist es so laut und heiß, dass er sich eher wie in einer Fabrikhalle vorkommt

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