Unbekannt verzogen: Roman
ständig scharf auf mich.«
»Ich habe mir eben große Mühe gegeben, dich glücklich zu machen.«
»Verstehe. Wie großzügig von dir! Wie selbstlos!«
»Es kamen jedenfalls keine Klagen.«
Sie wird rot. Aber er hat recht, es gab einmal eine Zeit – sie währte nicht lange –, als das Leben mit Bob auch helle Seiten hatte und sie gern mit ihm ins Bett gegangen ist. Erst später wurde ihr klar, dass es weniger an seiner Strahlkraft lag als an der Dunkelheit, die sie selbst umgab.
»Liebst du mich noch?«, fragte er.
Sekundenlang steht die Frage unbeantwortet im Raum.
»Natürlich liebe ich dich.« Hinterste Reihe, neben den Toiletten. »Warum fragst du?«
»Ich weiß auch nicht … weil der Mensch sich doch im Laufe der Jahre verändert.«
»Und bei uns sind es schon ziemlich viele Jahre.«
»Glaubst du, wir haben uns auch verändert?«
»Auf jeden Fall. Überleg doch mal, wir haben Sophie, wir haben alles, was eine Familie ausmacht. Ein viel zu teures Haus, einen ungepflegten Garten, Schulden bis ins Grab.«
»Aber ich meine doch uns .«
Carol behagt die Wendung gar nicht, die das Gespräch genommen hat. Sie genießt die Vertrautheit mit Bob ja gerade deshalb, weil sie nicht echt, sondern nur Theater ist. Sie spielt die Rolle der Frau, die so gut darin ist, ihrem Mann Liebe vorzuspielen, dass er ihr tatsächlich glaubt. Und Bob hat die Erhabenheit dieses Augenblicks zerstört. Wie ein Handyklingeln im Parkett. Alltägliche Wahrheiten haben keinen Platz auf Carols Bühne.
»Wo kommen denn auf einmal diese ganzen Fragen her?«, sagt sie.
Dabei krault sie ihm liebevoll den Bauch, damit er nicht das Gefühl hat, sie wolle ihn angreifen. Im selben Moment merkt sie, dass sie ihn wie einen Hund behandelt. Lauf, und bring den Knochen.
»Es ist sicher wegen der Krankheit, dass ich jetzt über solche Dinge ins Grübeln komme«, sagt er. »Ich frage mich zum Beispiel auch, was ich aus meinem Leben gemacht habe.«
Die Antwort würde wohl ziemlich deprimierend ausfallen: nicht viel. Sicher, sie haben ein Kind, doch das war mehr eine Sache von Ursache und Wirkung. Und sie besitzen ein anständiges Auto und ein schönes Haus, aber weder auf das eine noch das andere würde man mit besonders viel Stolz zurückblicken. Im Gegenteil, es ist ein Leben in unsichtbarer Armut, dem zwar Häuser und Autos den Anstrich von Erfolg verleihen, dem aber jedes solide Fundament fehlt. Wenn das Erfolg sein soll, warum müssen sie sich dann rund um die Uhr stumpfsinnig in ihren Büros abrackern, nur um nicht wieder abzurutschen?
»Meinst du, Sophie ahnt etwas?«, fragt Bob.
Carol verkneift sich die Bemerkung, dass ihre Tochter dafür viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. »Sie hat bestimmt gemerkt, dass wir uns ein bisschen seltsam benehmen, aber wir sind ihre Eltern. Von denen erwartet sie nichts anderes.«
Bob sieht erleichtert aus.
»Macht es dir wirklich nichts aus, morgen mitzukommen?«, fragt er. »Du musst nicht.«
Sie lächelt ihn an, froh, dass sie sich endlich nicht mehr verstellen muss. »Aber ich möchte gerne, das weißt du doch. Wir stehen das gemeinsam durch.«
Jetzt versteht Carol, warum man sich privat krankenversichert. Die Praxisräume von Bobs Spezialisten strahlen etwas Gediegenes aus, wie ein exklusiver Club. Im ersten Moment befürchtet sie fast, es könnte eine verpflichtende Kleiderordnung geben.
»Gewiss«, hört sie die Arzthelferin am Empfang schon von oben herab näseln. »Es ist mir bekannt, dass Ihr Gatte an Krebs erkrankt ist, aber solange Ihr Rocksaum nicht das Knie bedeckt, können Sie sich beide zum Teufel scheren.«
Aber natürlich ist die Arzthelferin ein ganz reizendes Ding, wie frisch aus dem Mädchenpensionat und von ältestem Landadel. Selbst wenn sie den Arztbesuch aus eigener Tasche bezahlen müssten, hätte sich die Ausgabe in Carols Augen schon allein für diese Begegnung gelohnt – und dass, obwohl sie noch gar nicht mit dem Arzt gesprochen haben.
»Doktor Fitzgerald erwartet Sie«, sagt die Frau mit perfekt artikulierten Vokalen, aber auch mit einer derart tief empfundenen Herzlichkeit, dass Carol sich am liebsten sofort mit ihr anfreunden möchte. In spätestens zwei, drei Wochen würden ihr die Einladungen zu Fasanenjagden und Debütantinnenbällen nur so ins Haus flattern.
Bobs Stimme bringt die Seifenblase zum Platzen. »Carol? Carol?«
Er steht vor ihr und streckt ihr die Hand hin. Nachdem er ihr aus dem viel zu weichen Sessel hochgeholfen hat, hält er ihr
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