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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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die Tür zu einem mahagonigetäfelten Sprechzimmer auf, wo der Arzt sie mit einer Begeisterung empfängt, wie man sie sonst nur für einen Freund aufbringt, den man seit Jahren nicht gesehen hat.
    »Mister Cooper«, sagt er. »Und Sie müssen die werte Frau Gemahlin sein. Es ist mir eine große Freude, Sie kennenzulernen.«
    Er bietet ihnen zwar kein Gläschen Martini an und schlägt auch keine schnelle Runde Bridge vor, doch ansonsten tut er alles, damit sie sich wohlfühlen. Der Kaffee, den er für sie kommen lässt, wird in hauchzartem Porzellan serviert. Geduldig beantwortet er alle ihre Fragen, mit einer Stimme, die so beruhigend ist, dass man meinen könnte, Krebs sei ungefähr genauso gefährlich wie Akne oder eine peinliche Warze. Bob wird ruck, zuck wiederhergestellt sein.
    »Haben Sie seit unserem letzten Gespräch noch einmal über eine Prothese nachgedacht?«, fragt er, während er einen kleinen Silikonbeutel aus der Schreibtischschublade nimmt. »Es wäre nur ein sehr leichter Eingriff, und …« Er hält das Implantat hoch und drückt es zusammen. »Wie Sie sehen, ist die Wirkung des Produkts ausgesprochen lebensecht.«
    Jetzt weiß ich endlich, was die Männer mit ihren Eiern machen, denkt Carol. Kneten und sich darüber freuen, wie schön weich sie sind. Ob sie das wohl nur zum Privatvergnügen betreiben? Oder tauschen sie sich mit ihren Kumpels darüber aus? Ihr schwant, dass sie über Männerfreundschaften noch viel zu lernen hat.
    »Bitte sehr«, sagt der Arzt. Gespannt überreicht er Bob den künstlichen Hoden. Sicher denkt er, wenn er ihn ein bisschen damit spielen lässt, kann er den Deal gleich unter Dach und Fach bringen.
    »Ist das dasselbe wie ein Brustimplantat?« Bob wirft einen Seitenblick auf Carol.
    »Äh, dasselbe nicht, nein, aber doch im Grunde sehr ähnlich. Ein Brustimplantat wäre natürlich um einiges größer, vom Gefühl her jedoch durchaus vergleichbar.«
    Bob scheint das als Ansporn zu nehmen, das Ding noch gründlicher durchzuwalken. Der Arzt betrachtet ihn mit wachsendem Widerwillen, und sogar Carol hat den Eindruck, dass sie einem Rückfall in vorpubertäre Fantasien beiwohnt. Sie nimmt ihm das Ei ab und reicht es mit einem gequälten Lächeln über den Schreibtisch zurück.
    »So«, sagt der Arzt, der sich schon wieder im Griff hat, »dann erwarte ich Sie also morgen früh zu weiteren Blutuntersuchungen und zur Computertomographie wieder in der Klinik. Sobald wir die Ergebnisse haben, wissen wir genau, wo wir stehen.«
    »Und wenn sie schlecht ausfallen?«
    »Schlecht ist ein Wort, das ich nach Möglichkeit vermeide. Es geht um den Weg, den wir vor uns haben. Das kann ein Hundertmetersprint sein oder ein Querfeldeinlauf mit Hindernissen. Doch wann immer Sie durchs Ziel gehen, ich werde da sein, um Ihnen als Erster zu gratulieren – und mit einem großen Glas Gin auf Sie anzustoßen.«
    »So was würdest du als Kassenpatient nie erleben.«
    »Was? Dass dein Arzt dir einen Gin ausgeben will?«
    »Nein«, sagt Bob. »Dass er dir Hoffnung gibt.«
    »So, wie es heutzutage um den Nationalen Gesundheitsdienst bestellt ist, musst du schon froh sein, wenn du überhaupt irgendwas kriegst. Und bis du es kriegst, kannst du längst tot sein.« Sie beißt sich auf die Zunge. »Entschuldige.«
    »Ist schon gut, ich hab’s ja verstanden.«
    »Ich meinte nicht ›du‹, ich meinte ›man‹. Man könnte tot sein.«
    Die Erklärung hätte sie sich sparen können, Bob hört gar nicht zu. Außerdem klingt dieses Man für Carols Geschmackviel zu hölzern. Sie ist einfach keine Man -Frau. Schade, eigentlich. Sie muss an die Arzthelferin denken, an ihre schwebende Leichtigkeit, an die Sicherheit, mit der sie immer die richtigen Worte findet und dabei auch noch vollkommen natürlich wirkt.
    »Sie ist ein Schmetterling, und ich bin ein Elefant …«
    »Was hast du gesagt?«
    »Ach, nichts. Ich hab nur laut nachgedacht.«
    »Über Elefanten?«
    »Nein, über das Leben.«
    Die Themse hat Niedrigwasser, als sie hinüberfahren. Rechts und links am Ufer sind breite Schlickstreifen zum Vorschein gekommen, auf deren Anblick Carol gut hätte verzichten können. Man muss nicht alles wissen.
    »Bist du glücklich mit deinem Leben?«, fragt sie.
    »Glücklich, dass ich Krebs habe und man mir mit zweiundvierzig einen Hoden amputiert hat? Nein, kann ich nicht gerade behaupten, Carol.«
    »Das meinte ich nicht. Eher so was wie …« Sie seufzt. Wie hat sie es denn nun gemeint? »Bist du glücklich mit

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