Unberuehrbar
tut. Ich gehe jetzt zu Frei.
Sids Flüstern vibrierte in seinem Kopf, gerade als sich die Fahrstuhltür öffnete.
Ist gut, Doc. Viel Glück.
In der Dunkelheit zwischen Feierabend und Sonnenaufgang waren die Gänge von White Chapel ein endloses Netz voller Schweigen und Schatten, in dem nur die Sicherheitslampen über den Türen wie winzige Augen blinzelten. Auf dem Flur im zweiten Stock, wo die Versuchsobjekte gehalten wurden, war es totenstill. Die Menschen schliefen, und auch die jungen Bluter hatten ihre letzte Mahlzeit in dieser Nacht beendet und lagen in ihrem bleiernen Schlaf, der sie erst loslassen würde, wenn die Sonne am nächsten Abend wieder unterging. Cedric hoffte allerdings, dass Frei noch wach sein würde, damit er keine Zeit darauf verschwenden musste, sie mühsam zu wecken. Ganz abgesehen davon, wie riskant das für ihn selbst seinkonnte, wollte er schnell von hier verschwinden – ehe Dorian bemerkte, dass er noch nicht gegangen war, wie er vorgegeben hatte.
Und er hatte Glück.
Als er den Riegel von Freis Zelle zurückschob und die Tür öffnete, sah er gerade noch, wie sie herumfuhr – und mit einer hastigen Bewegung ihr Nachthemd über ihre Oberschenkel zerrte. Aus großen Augen starrte sie ihn an. Sie hockte auf dem Bett, ihre bleiche Haut schimmerte fahl in der Dunkelheit. Die blonden Locken waren wirr, als hätte sie sich die Haare gerauft, und trotz ihrer Bemühungen sah Cedric sofort die riesigen Blutergüsse an ihrem rechten Bein. Sie hatte sich schon wieder selbst geschlagen. Cedric unterdrückte ein leidgeprüftes Seufzen. Es war nicht die Zeit, ihr Vorhaltungen zu machen.
»Frei, kannst du aufstehen?«
Frei antwortete nicht, sondern starrte ihn nur weiter an, als sei sie sich nicht sicher, ob er wirklich da war. Es war kein Wunder, dass sein Besuch sie überraschte – Cedric war noch nie zweimal in derselben Nacht bei ihr gewesen. Aber auch für Erklärungen hatten sie jetzt keine Zeit.
»Du kannst nicht länger hierbleiben.« Er fasste sie beim Arm. »Frag nicht, warum, darüber sprechen wir später. Erstmal müssen wir dich hier rausbringen, bevor die Sonne aufgeht.«
Freis Augen weiteten sich. Ein Funke flackerte in der Tiefe der gelben Iriden – und zum allerersten Mal, seit Cedric begonnen hatte, sie zu therapieren, widersprach sie ihm nicht. Nicht einmal aus Prinzip. Stattdessen packte sie mit entschlossener Miene seinen Arm und mühte sich auf die Füße. Ihr Bein, das von der Behandlung noch taub sein musste, gab unter ihr nach. Aber sie klammerte sich an Cedrics Ellbogen und hielt sich aufrecht.
»Es geht schon«, murmelte sie heiser und biss die Zähne zusammen, als ihre Finger unkontrolliert zuckten und sie beinahe doch den Halt verloren hätte.
Cedric hielt sie am Arm fest, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Ja, dachte er grimmig. Es musste gehen. Sie in der Zelle zu lassen war keine Option. Unruhig horchte er auf das warnende Vibrieren des Bodens unter seinen Füßen. Aber Sid rührte sich nicht und gab auch keinen Laut.
»Keine Angst.« Cedric versuchte, seine Stimme möglichst ruhig zu halten. »Ich passe auf dich auf.«
Frei nickte stumm. Ihr Gesicht war zu einer verbissenen Grimasse verzerrt. Sie musste starke Schmerzen haben. Aber sie klagte nicht. Cedric musterte sie von oben bis unten, ihr dünnes, blutbeflecktes Nachthemd, das im Wind vom Fenster her leicht flatterte. »Es ist zu kalt«, murmelte er, eher zu sich selbst, als an sie gerichtet. Behutsam löste er Freis Finger von seinem Arm und half ihr, sich am Metallrahmen ihres Bettes festzuhalten. Dann zog er seinen Mantel aus und legte ihn um ihre Schultern; hielt ihn offen, damit sie in die Ärmel schlüpfen konnte. Schließlich legte er ihren Arm um seine Schultern und umfasste mit seinem ihre Taille. Ein letztes Mal atmete er angestrengt durch und spürte, wie sich Freis dürre Finger in sein Hemd krallten.
»Also dann«, murmelte er. »Wollen wir mal.«
Der Weg vom zweiten Stock bis in die Eingangshalle schien Cedric doppelt und dreifach so lang zu sein wie sonst – vor allem, da er Frei mehr schleppte als führte. Immer wieder knickte ihr Bein unter ihr weg, und sie hing in seinem Arm wie ein nasser Sack Mehl. Als sie den Eingangsbereich erreichten, sickerte bereits bläuliches Zwielicht durch die gläsernen Schiebetüren. Der Morgen war angebrochen. Draußen am Fuß derTreppen, die zum Eingang hinaufführten, wartete ein Auto mit spiegelnd getönten Scheiben. Cedric
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