Unberuehrbar
Zäune, die von längst vergessenen Viehweiden zeugten. Dann zogen sie weiter, immer Richtung Norden. Chase trug die Kiste mit den Konserven, Red nur sich selbst, was oftmals schwer genug war. Vor allem, da Chase in seinem Trainingsprogramm unerbittlicher war als ihr ehemaliger Ausbilder Tony an seinen schlechtesten Tagen.
Gegen Mittag wurde Chase allerdings für gewöhnlich müde – sein junger Vampirkörper zehrte bei allen Vorzügen, die er mit sich brachte, unglaublich viel Energie und ließ Chase nach der Jagd jedes Mal ausgemergelt und blass zurück, so dass Red sich oftmals lebendiger fühlte als sein unsterblicher Freund. Dann trank er von Red und legte sich in die Konservenkiste, um wie ein Stein zu schlafen. Für den Rest des Tages war Chase daraufhin nicht mehr ansprechbar. Und auch Kris war bisher noch nicht wieder aufgetaucht. Aber Red war froh, ab und an ein paar Stunden für sich zu haben. Also wanderte er jeden Tag noch einige Meilen allein weiter, in dem Wissen, dass Chase ihn schon finden und notfalls wieder auf den richtigen Weg bringen würde. Bei Einbruch der Dunkelheit suchte er sich für die Nacht einen Platz in einer der Ruinen, die immer wieder wie einsame Überreste der Zivilisation zwischen den Felsen auftauchten, oder er verkroch sich im Unterholz der immer karger werdenden Wälder auf den Steilhängen. Es überraschte ihn selbst, wie ruhig er mitten in der Wildnis und ohne jeden Schutz schlafen konnte. Die Einsamkeit und die Bewegung taten ihm gut. Selbst der Regen, der ihn immer öfter begleitete, je weiter er ins Gebirge vordrang, fühlte sich niemals unangenehm an, sondern vielmehr, als ob er Reds Gedanken von allem Schmutz reinigte, der sich darauf im vergangenen Jahr seit seiner Flucht aus der OASIS abgelagert hatte. Er konnte sich selbst wieder atmen hören. Und morgens, wenn er aufwachte, war Chase schon da, und der Kreislauf begann von vorn.
Doch eines Tages, fast eine Woche nach ihrer Ankunft auf dem verlassenen Bahnhof, geschah etwas, mit dem Red im Leben nicht gerechnet hätte.
Denn an jenem rotgrauen Morgen war es weder der Wind, der ihn weckte, noch der Regen und auch nicht Chase.
Es war ein Menschenmädchen.
Kapitel Vier
Forschungsstation White Chapel, Kenneth, Missouri
Cedric wartete bis kurz vor Sonnenaufgang, ehe er sein Büro verließ. Die übrigen Mitarbeiter von White Chapel mussten längst nach Hause gegangen sein – bis auf einen, vermutlich. Der, von dem Cedric sich am meisten wünschte, er würde sich einfach in Luft auflösen und niemals wieder in seiner Nähe auftauchen. Dann hätte er diese Wahnsinnsaktion gar nicht erst anfangen müssen.
Er schloss die Bürotür ab und legte die Hand auf den Rahmen. »Sid – Licht aus!«
Es dauerte ein oder zwei Augenblicke, dann vibrierte das Holz unter seinen Fingern.
Geht klar, Doc.
Die Lampen an der Decke flackerten, eine nach der anderen, und verloschen dann. Dunkelheit senkte sich über den Gang. Nur unter der Tür von Büro Nr. 336 leuchtete ein schwacher gelber Schimmer. Dorian arbeitete noch.
Auch Cedric verlegte sich jetzt darauf, seine Gedanken anstelle seiner Stimme zum Sprechen zu benutzen, während er den düsteren Flur in Richtung Fahrstuhl entlangging. Er war unruhig, das konnte er nicht leugnen, auch wenn er sich gewünscht hätte, er könnte diese Situation gelassener wegstecken.
Wie ist die Lage bei dir, Sid?
Es dauerte einen Moment, bis Sid antwortete.
Er liest,
teilte er schließlich sehr leise und ein wenig zögernd mit. Es klang beinahe kleinlaut.
Aber er ist ein ganz schöner Fuchs, Doc. Ich bin nicht sicher, ob er mich nicht schon bemerkt hat.
Cedric runzelte die Stirn und drückte auf den Knopf, um den Fahrstuhl zu rufen.
Warum hast du mir nicht sofort Bescheid gesagt?
Er konnte spüren, wie Sid sich innerlich wand. Seine Stimme war nun noch leiser.
Tut mir leid, Doc. Ich habe mich nicht weggetraut. Ich dachte, dann erwischt er mich auf jeden Fall.
Cedric hob die Brauen. Dass Sid sich etwas nicht traute, war bemerkenswert – aber er sollte wohl froh sein, dass der Wächter den Ernst der Lage erkannt hatte. Natürlich, Dorian war ein Spezialist darin, die Anwesenheit anderer Vampire zu erspüren. Niemand konnte sich auf Dauer vor ihm verstecken.
Dann ist es umso wichtiger, dass du dich auch weiterhin nicht zeigst. Solange er dich nur spürt, aber nicht orten kann, wird es ihn verwirren – und hoffentlich ablenken. Bleib, wo du bist, und gib mir sofort durch, wenn sich etwas
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