Unberuehrbar
Gedanken schweiften immer wieder ab. Die Situation verwirrte sie so sehr, dass sie kaum wagte, sich über die unerwartet gewonnene Freiheit zu freuen. Was bedeutete das alles? Warum holte Cedric sie aus der Station? So plötzlich – und so heimlich? Und warum war er nicht gleich mit ihr gekommen? Er hatte so grimmig ausgesehen. Irgendetwas war passiert. Etwas, das ihm gar nicht gefiel. Seit Monaten sah sie ihn jede Nacht, und er war bei weitem nicht immer freundlich zu ihr gewesen. Sie hatte ihn zynisch erlebt, gereizt, ungeduldig oder stoisch kühl. Aber nie so finster.
Endlich hob sich das Tor der Tiefgarage erneut. Weißes Licht fiel herein, und obwohl es Frei längst nicht erreichte, zuckte sie zusammen und schlang die Arme fester um die Knie. Die Sonne … Sie hatte immer gedacht, sie wüsste, wie die Verbrennungen sich anfühlten. Aber jetzt, wo sie einmal bei vollem Bewusstsein in diesem grellen Licht gestanden hatte, fragte sie sich, wie sie jemals bei offenem Fenster hatte schlafen können. Es war brutal, als würde man bei lebendigem Leib gegrillt.
Das Taxi hielt nur wenige Schritte von ihr entfernt undschnitt die beißenden Strahlen für den Moment ab. Die hintere Tür des Wagens öffnete sich – und dann stand Cedric vor Frei und sah auf sie herab. Im Halbdunkel erkannte sie die harte Linie seines Kiefers unter der blassen Haut. Was auch immer ihn an diesem Morgen dazu bewegt hatte, sich so merkwürdig zu verhalten, es trieb ihn offensichtlich immer noch um.
Cedric streckte ihr die Hand entgegen. »Komm.« Bei aller Anspannung auf seinem Gesicht klang seine Stimme dennoch gewohnt ruhig. »Zeit, schlafen zu gehen.«
Zögernd griff Frei nach seiner Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. Allmählich kehrte immerhin etwas Gefühl in ihr Bein zurück. Sie war dankbar dafür, weil es bedeutete, dass sie es einigermaßen normal benutzen konnte. Auch wenn jeder Schritt sich anfühlte, als würden tausend Nadeln in ihrer Fußsohle stecken, die sich beim Auftreten tiefer in ihr Fleisch bohrten.
Zum Glück war die Strecke, die sie zurücklegen musste, diesmal nicht sehr weit. Cedric rief den Fahrstuhl, der sie etliche Stockwerke nach oben beförderte.
Und als die Türen sich öffneten und sie Cedrics Wohnung betraten, hatte Frei das Gefühl, dass sie zum ersten Mal einen Schritt in ihr neues Leben tat.
Der Raum war groß, riesig geradezu. Ohne jede Form von Trennwänden war er in verschiedene Bereiche aufgeteilt – ein Arbeitsplatz, eine Sitzecke, eine Küchenzeile. Das Herzstück bildete ein Konzertflügel in der Mitte des Zimmers. Alles war sauber und ordentlich und wirkte ein wenig steif, wie Cedric selbst manchmal. Aber in diesem Augenblick erschien es Frei wie der schönste Ort, den es auf der Welt geben konnte. Die Außenwand der Wohnung war mit getönten Scheiben verglast, die die Strahlen der Morgensonne nur gedämpft hereinließen. Das Licht schimmerte auf den Möbeln und dem schwarzenLack des Flügels und funkelte in einer Karaffe mit Wasser, die auf einem Tisch nahe der Fensterfront stand. Frei spürte, wie sich hinter ihren Lidern Tränen sammelten. Der Anblick war so schön und berührte sie an einem Punkt so tief in ihrem Inneren, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn gab. Sie hätte ewig im Eingang stehen und zusehen können, wie das Licht mit dem steigenden Stand der Sonne gemächlich über den hellen Teppich wanderte.
Farben.
Sie konnte
Farben
sehen!
Als Cedric sich hinter ihr leise räusperte, zuckte sie zusammen und blinzelte hastig. Eine Hand legte sich behutsam auf ihren Rücken.
»Ich zeige dir dein Zimmer.« Eine Spur grimmige Finsternis war noch immer in Cedrics Stimme zu hören. Aber Frei bemerkte es kaum. Sie war zu überwältigt, um sich jetzt Sorgen zu machen. Widerspruchslos folgte sie ihm durch eine der beiden Türen, die aus dem Hauptraum herausführten, in ein fensterloses Zimmer. Eine Kiste aus Ebenholz, gut zwei Meter lang, stand an der rechten Wand. Daneben eine schlichte Truhe. Sonst war der Raum leer.
Kein Bett. Ein Sarg.
Ein Lächeln zitterte auf Freis Lippen. Dies war so viel besser als das Metallgestell in ihrer Zelle.
»In der Truhe sind Blutkonserven. Trink etwas, bevor du dich schlafen legst.«
Frei wandte sich um und sah Cedric ins Gesicht. Und nun fiel doch eine der ungeweinten Tränen aus ihren Augen. »Danke«, flüsterte sie.
Cedrics Mundwinkel zuckten, zu schwach, um ein echtes Lächeln zu sein. »Schlaf gut, Frei«, sagte er nur.
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