Unberuehrbar
atmete auf. Fast geschafft. Jetzt musste er Frei nur noch die paar Schritte durch das erwachende Tageslicht bis in den Wagen bringen.
In diesem Augenblick schoss Sids Stimme kribbelnd durch Cedrics Beine bis hinauf in sein Hirn.
Doc?
Stocksteif blieb Cedric stehen. Die Stimme des Wächters klang eindeutig nervös. Zu nervös.
Sid, was ist?
Noch ehe er ganz ausgesprochen hatte, setzte sich hinter ihm, am Ende des Ganges, erneut der Fahrstuhl in Bewegung – und Cedric wusste, was los war.
Dorian.
Er war auf dem Weg zu ihnen. Irgendwie hatte er gespürt, was vorging – dass sich jemand an Orten bewegte, an denen er nicht sein sollte. Er war wirklich noch viel stärker geworden, als Cedric erwartet hatte.
Er hat die Wand angefasst, und plötzlich war er weg!
Sid klang verwirrt, aufgeregt – und beinahe kläglich.
Ich kann ihn nicht spüren, Doc, ich weiß nicht, wo er ist! Mein Kopf … Aua … ah … ich kann …
mich
nicht spüren …
Cedric warf einen Blick über die Schulter zum Fahrstuhl, der jetzt nach oben glitt und im dritten Stock hielt. Dort, wo die Büros waren.
Cedric fluchte stumm und zog an Freis Arm, zerrte sie vorwärts durch die Halle, auf den Ausgang zu. Nein, er würde nicht scheitern. Nicht jetzt! Nicht auf den letzten Metern!
Ich bin gleich da, Sid. Bleib, wo du bist!
Frei sah aus großen Augen zu ihm auf, während sie neben ihm her stolperte. Sie begriff nicht, was vorging, aber Cedric konnte es ihr jetzt auch nicht erklären. Sie musste hier weg, und zwar sofort. Er legte den freien Arm über ihren Kopfund drückte ihre Stirn gegen seine Schulter, bis sie nichts mehr sehen konnte außer einem winzigen Stück Fußboden vor ihr.
»Keine Sorge.« Nur mit Mühe konnte er die Anspannung in seiner Stimme unterdrücken. »Es ist nur ein kurzes Stück bis zum Auto.«
Dann drückte er den Knopf, der die Tür öffnete. Als die Morgensonne durch den Spalt zwischen Cedrics Arm und ihrer Schläfe auf Freis Gesicht fiel, zuckte sie zusammen, und ein erstickter Schrei kam über ihre Lippen. Sie strauchelte und klammerte sich an Cedric, der den Griff um ihre Hüfte verstärkte. »Komm«, drängte er. »Dir passiert nichts, geh weiter!«
Er hielt sie jetzt so fest, dass er sie fast trug. Ihre Füße berührten kaum die Stufen, während er sie die Treppe hinunter zog. Frei presste das Gesicht gegen seine Schulter, und Cedric spürte, wie sie die Lider zusammenkniff.
Die Fahrertür des Wagens öffnete sich, und Carl, Cedrics dunkelhäutiger Lieblingstaxifahrer, stieg aus.
»Guten Morgen, Dr. Edwards«, sagte er. »Wie …«
Als sein Blick auf Frei fiel, verstummte er. Einmal mehr war Cedric froh, dass Carl keine Aufforderungen brauchte, um zu tun, was nötig war. Wie selbstverständlich stellte er sich vor Frei, so dass sein Schatten auf sie fiel und sie von dem gleißenden Licht abschirmte. Dann öffnete er die Autotür, packte Frei an den Schultern und bugsierte sie ins Innere des Wagens. Mit einem dumpfen Klacken fiel die Tür wieder ins Schloss, und Frei war für alle Augen unsichtbar.
Vergeblich versuchte Cedric, seinen Atem zu beruhigen. »Bringen Sie das Mädchen zu mir nach Hause«, wies er den Fahrer knapp an. »Dann holen Sie mich hier ab. Und beeilen Sie sich!«
Carl tippte an den Schirm seiner Mütze. »Sofort, Dr. Edwards.« Er schwang sich ins Auto, ließ den Motor an, und der Wagen rollte die Auffahrt hinunter. Kurz darauf bogen das Fahrzeug und seine empfindliche Fracht um die Ecke und waren außer Sichtweite – gerade in dem Moment, als auch die Eingangstür mit leisem Zischen zur Seite glitt.
Cedric drehte sich nicht um, als die lautlosen Schritte verhielten. Sein Herz pochte noch immer wie wild. Doch gleichzeitig breitete sich eine grimmige Ruhe in ihm aus. Er hatte es geschafft. Diese Runde hatte er gewonnen. Frei – und mit ihr das größte Geheimnis von White Chapel – war in Sicherheit.
»Oh«, sagte Dorian hinter ihm sanft. »Ich komme zu spät, wie es aussieht.«
Erst jetzt wandte Cedric langsam den Kopf. Dorian war nur eine Armlänge von ihm entfernt stehen geblieben und sah mit sinnender Miene die Auffahrt hinab. Die Morgensonne glänzte auf seinem Haar und schimmerte auf seinen Wangen, dass es aussah, als würde das Licht aus ihm heraus leuchten. Er wirkte entspannt, als wäre er nur zufällig ausgerechnet jetzt vor die Tür gegangen, um etwas frische Morgenluft zu schnappen. Cedric verkniff sich ein finsteres Lächeln. Natürlich war das Fassade. Innerlich
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