Unberuehrbar
musste Dorian toben, weil eines von Cedrics Geheimnissen schon jetzt außer Reichweite für ihn war.
Cedric hob eine Braue. »Das liegt im Auge des Betrachters. Wenn du mich fragst, wärst du fast noch zu früh. Aber ja, so gesehen hast du natürlich recht.«
Dorian seufzte tief. Von seiner Wut war immer noch nichts zu sehen, und Cedric war kurz davor, sich deswegen Sorgen zu machen. »Wie bedauerlich. Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als für heute wieder an die Arbeit zu gehen.« Langsam wandte er sich um – hielt aber im letzten Moment noch einmal inne. »Mein Büro gefällt mir übrigens sehr. Es istso lebendig. Ich hätte schwören können, dass ich die Wände atmen höre.«
Sid. Cedric spürte, wie seine Schultern sich verkrampften. Die klägliche Stimme seines Wächters fiel ihm wieder ein.
Mein Kopf … Aua … ah … ich kann … mich nicht spüren …
Ein nervöses Ziehen griff nach Cedrics Eingeweiden. Was hatte Dorian schon über den Wächter herausgefunden? Und was hatte er mit ihm gemacht?
Er machte einen Schritt auf Dorian zu. »Lass die Finger von meinen Wänden«, sagte er sehr deutlich. »Oder du wirst es bereuen.«
Jetzt endlich erschien wieder ein Lächeln auf Dorians Gesicht, und er lachte leise. »Cedric, Cedric.« Er schüttelte den Kopf. »Seit wann hast du es denn nötig, mir zu drohen? Ich arbeite für dich, vergiss das nicht.« Er zwinkerte. »Also, wir sehen uns morgen. Ich wünsche dir einen schönen Tag.«
Cedric antwortete nicht. Schweigend beobachtete er, wie Dorian mit lässigen Schritten durch die Eingangshalle schlenderte und schließlich im Fahrstuhl verschwand. Er hatte plötzlich das seltsame Bedürfnis, zu brüllen und etwas zu zertrümmern. Aber er musste sich zusammenreißen. Sein Wächter brauchte ihn jetzt. Er konnte das leise Wimmern noch immer unter seinen Füßen spüren.
»Sid! Wo steckst du? Komm her!«
Es dauerte einige Zeit, bis Sid sich rührte, als müsse er sich erst vergewissern, dass Dorian wirklich fort war. Dann aber tropfte zögernd seine Gestalt vom Dach über der Treppe. Sids hageres Gesicht war kalkweiß, seine Schultern verkrampft. »Na endlich, Doc.« Seine Stimme war brüchig und schwankte, als könne er sie nicht richtig kontrollieren.
Cedric runzelte finster die Stirn. »Was ist mit dir? Was ist passiert?«
»Er hat irgendwas Komisches mit der Wand gemacht«, röchelte Sid. »Er hat mich
angefasst
.« Er schüttelte sich. Nur langsam kehrte etwas Farbe in seine Wangen zurück.
Eine tiefe Falte erschien auf Cedrics Stirn. War das denn wirklich möglich? Hatte Dorian schon jetzt herausgefunden, dass Sid mit White Chapel verbunden war? Oder war das ein Zufallstreffer? »Lass mal sehen.«
Sid neigte gehorsam den Kopf und ließ zu, dass Cedric die Hände an seine Schläfen legte. Vorsichtig tastete Cedric sein Gehirn ab, überprüfte die synaptischen Verbindungen und die Blutversorgung. Schließlich ließ er die Hände sinken. Innerlich atmete er auf. Nein, Dorian war nicht gezielt vorgegangen. Es war ein Schuss ins Blaue gewesen, von dem er vermutlich nicht einmal wusste, ob er Wirkung gezeigt hatte.
»Alles in Ordnung. Deine sensomotorischen Signalwege sind ein bisschen gehemmt, das ist alles. Ruh dich aus, das legt sich wieder.«
Sid stieß ein tiefes Schnaufen aus. Es war wirklich lange her, dachte Cedric, dass er seinen Wächter so verunsichert gesehen hatte.
»Ich hoffe, du begreifst jetzt, warum ich dich vor ihm gewarnt habe.« Er klopfte Sid leicht auf die Schulter. »Halt dich fürs Erste fern von ihm, in Ordnung?«
Sid nickte. Er war immer noch blass, aber seine Augen funkelten wieder. Er war tödlich wütend, das war offensichtlich. »Ich lasse das auf keinen Fall noch mal zu, Doc. Ich fühle mich schon viel besser.«
Cedric seufzte nachsichtig. »Pass auf dich auf, versprich mir das. Ich überlasse die Station für heute deiner Aufsicht. Funk mich sofort an, wenn etwas passiert.«
Sid nickte. »Zählen Sie auf mich, Doc. Und geben Sie gut auf die Irre acht.«
Kapitel Fünf
46 West Street, Kenneth, Missouri
Mit angezogenen Knien kauerte Frei in der Tiefgarage vor dem Fahrstuhl und wartete, dass etwas geschah. Dies war also Cedrics Zuhause – oder wenigstens das Haus, in dem er lebte. Das hatte zumindest der Fahrer gesagt, ehe er sie hier zurückgelassen hatte. Seitdem saß sie hier. Allein. Frei legte das Kinn auf die nackten Knie und versuchte, die Sekunden zu zählen, um sich zu beschäftigen. Aber ihre
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