Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unberuehrbar

Unberuehrbar

Titel: Unberuehrbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Rubus
Vom Netzwerk:
»Ich sehe dich heute Abend.«
    Leise schloss er die Tür hinter sich, und Frei blieb allein in der Finsternis zurück. Aber zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, hörte sie keinen schweren Riegel den Ausgang versperren.
     
    Als der totenähnliche Schlaf sie wieder freigab, hätte sie um nichts in der Welt sagen können, wie spät es war – oder wann sie sich hingelegt hatte und wie oder wo. Um sie herum war es dunkel, aber es war eine andere Dunkelheit als die, die sie gewohnt war. Weich, schwarz und absolut. Kein Wind, der sie bewegte. Und kein roter Schimmer am Horizont.
    Das Fenster!
    Frei fuhr in die Höhe – und schlug sich den Kopf empfindlich an einer dicken Holzplatte. Unter dem Aufprall platzte die Haut an ihrer Stirn, und sie spürte einen klebrigen Tropfen ihre Schläfe hinabrinnen. Blut. Und sie hatte keine Konserve. Das war schlecht. Sehr schlecht.
    Frei kniff die Augen zusammen und versuchte, ruhig zu atmen, obwohl es in ihrem Unterleib bereits schmerzhaft zu ziehen begann. Es war alles gut, versuchte sie sich zu beruhigen. Es war ihr eigenes Blut, es gab keinen Grund, sich selbst zu beißen …
    Aber ihr Körper sah das anders. Ein heftiges Zittern setzte sich von Freis Magen aus bis in ihre Finger und Zehenspitzen fort. Hektisch betastete sie die Holzdecke über ihr. Sie musste hier raus! Dicker Stoff raschelte und scheuerte an ihren Armen – und endlich fiel es ihr wieder ein. Cedrics Mantel! Richtig. Sie war nicht mehr in White Chapel. Cedric hatte sie mit zu sich nach Hause genommen, und sie hatte in einem Sarg geschlafen. Sie war nicht eingesperrt, und da draußen gab es Blut …
    Hastig schob Frei den Deckel zur Seite und setzte sich auf.Im Zimmer war es immer noch dunkel. Aber die Tür war nur angelehnt, und ein schmaler Streifen gelbes Licht fiel herein, flackernd und ein wenig unstet. Schritte erklangen auf der anderen Seite. Cedric?
    Frei hielt den Atem an und lauschte, aber die Schritte näherten sich nicht. Stattdessen hörte sie ein Quietschen, und einen seltsam hohlen Laut.
    Und dann …
    Ein dunkler Akkord brachte die Luft zum Schwingen. Der Klang schien direkt nach Freis Seele zu greifen, wie ein Glockenschlag aus weiter Ferne. Ein zweiter, dritter, vierter Akkord reihten sich mit der gleichen Intensität an den ersten, dann folgten weitere vier, mit mehr Nachdruck gespielt, um sich schließlich in einer schwingenden Linie bestechend klarer Töne aufzulösen.
    Der Flügel sang.
    Frei schloss die Augen und spürte, wie eine Gänsehaut über ihren Körper lief, die nicht von der Kälte kam. So etwas hatte sie noch nie gehört, nicht, seit sie erwacht war, und auch niemals vorher. So etwas konnte man nicht vergessen. Unmöglich. Die Töne waren so schwermütig und gleichzeitig so leicht und mühelos, so hell und hoffnungsvoll und zugleich unendlich traurig.
    Wunderschön.
    Mit zitternden Knien kam sie auf die Füße und bemerkte kaum den altbekannten Schmerz, der in ihren Gelenken brannte. Auf unsicheren Beinen schlich sie zur Tür und spähte durch den Spalt in den Hauptraum.
    Das riesige Zimmer war von Kerzen erhellt. Der Flügel war geöffnet, und Cedric saß davor, die Hände auf den Tasten. Frei konnte sein Profil sehen und den ungewohnten Ausdruck auf seinem Gesicht – seltsam gelöst und gleichzeitig hochkonzentriert.Er hatte die Augen geschlossen, und sein Körper wiegte sich leicht im Takt der Musik. Er schien völlig versunken, und Frei bemerkte, wie auch sie selbst mehr und mehr in die Melodie hineingezogen wurde, die an- und abschwoll und jede Faser ihres Körpers mit Wärme füllte. Sie hätte ewig zuhören mögen.
    Am Ende hätte sie nicht sagen können, wie lange sie dort stand, die Hand um die Türklinke gekrampft. Doch schließlich, nach einem letzten vibrierenden Akkord, lagen Cedrics Finger still. Eine eigentümliche Ruhe legte sich über den Raum. Eine Ruhe, die sich leer und trocken auf Freis Zunge anfühlte. Sie räusperte sich leise.
    Langsam stand Cedric auf. Seine Finger lagen noch immer auf den Tasten. »Ah. Du bist wach.«
    »Cedric. Das war …« Frei verstummte. Ihr fehlten die Worte, um zu beschreiben, was sie gerade empfunden hatte.
    Cedric wandte sich zu ihr um. »Rachmaninow«, erklärte er in eigenartig nüchternem Ton. »Klavierkonzert Nr. 2, Opus 18 in c-Moll.« Ein schmales Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er schob die Hände in die Hosentaschen. »Er hat es seinem Neurologen gewidmet. Nett, oder? Vielleicht mag ich es deshalb so

Weitere Kostenlose Bücher