Unberuehrbar
sehr.«
Es war seltsam, dachte Frei, ihn ohne seinen Kittel zu sehen. Und dann auch noch im Licht – selbst wenn es nur der flackernde Schein der Kerzen war. Seine Haut wirkte nicht so fahl wie sonst, und in Jeans und dem dunklen Rollkragenpullover sah er viel weniger aus wie der Cedric, der sie jeden Abend in ihrer Zelle besucht hatte, um sie zu therapieren. Freundlicher.
Menschlicher.
Frei lachte stumm. Wie kam sie bloß immer wieder auf diesen Gedanken? Cedric war uralt, weit über vierhundert Jahre. Er war ganz bestimmt noch viel weiter von der Menschlichkeit entfernt als sie.
Er hatte gelbe Augen.
Frei wusste nicht, warum, aber das kam ihr komisch vor. Als wäre das nicht so, wie es eigentlich sein sollte.
»Hast du getrunken?« Cedric fuhr sich durch die Haare, die sich wirr über seinen Rollkragen lockten.
Frei schüttelte den Kopf. Nein – seit die Musik begonnen hatte, hatte sie keinen Gedanken mehr an Blut verschwendet, erkannte sie erstaunt, und auch nicht an den Hunger, der sie so überhastet aus dem Sarg getrieben hatte.
Cedric seufzte verhalten. »Tu mir einen Gefallen, Frei. Lass dich nicht um alles bitten, einverstanden?«
Frei runzelte die Stirn. Sein Tonfall ärgerte sie. Warum musste er die kleine Spur friedlicher Stimmung, die er mit seinem Spiel geschaffen hatte, gleich wieder zerstören? War das wirklich notwendig? Aber letztendlich, dachte sie, war es ja immer noch Cedric. Auch wenn er sich in den letzten Stunden etwas merkwürdig verhalten hatte. »Ich habe dir zugehört«, erklärte sie unwillig. »Keine Sorge, ich wäre schon von allein darauf gekommen, dass ich Hunger habe.«
Cedric hob die Brauen. Dann wandte er sich ab und ging zur Kochnische auf der anderen Seite des Raums hinüber. »Beeil dich ein bisschen«, sagte er über die Schulter. »Wir haben einiges zu besprechen. Und ich kann nicht ewig auf dich warten.«
Natürlich, dachte Frei und zwang sich, nicht mit den Zähnen zu knirschen, das konnte er vermutlich wirklich nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber Cedric würde wohl bald nach White Chapel aufbrechen müssen. Sie wandte sich um und kehrte in den Raum mit dem Sarg zurück. Ein Kribbeln in ihrem Bein fiel ihr auf, ähnlich dem, das sie am Morgen gespürt hatte, ehe sie sich schlafen legte. Frei sah hinunter zu ihrem Fußgelenk. Äußerlich war keine Veränderung festzustellen. Aber war es möglich, dass Cedric sie schon behandelthatte, während sie noch schlief? Auch ihr Kopf fühlte sich heute anders an. Der Druck hinter ihren Schläfen und ihrer Stirn war schwächer als sonst. Sie warf einen Blick zurück zur Tür, aber sie konnte Cedric von hier aus nicht sehen. Was hatte er mit ihr gemacht? Etwas, das er sonst nicht tat? Oder war es die normale Therapie gewesen, die endlich richtig anschlug?
Sie schüttelte den Kopf und hob den Deckel der Truhe an, die neben dem Sarg stand. Blutkonserven. Frei blieb stehen, starrte auf die dunkel glänzenden Beutel und wartete auf den Jagdtrieb, der ihre Sinne verschleiern würde; auf den Hunger und die Zerstörungswut, die er mit sich brachte.
In diesem Moment ertönte hinter ihr erneut Musik. Ein sanftes Klavierstück, melancholisch und zugleich ein wenig verspielt. Ein leichter, aromatischer Duft mischte sich in den Klang. Frei kannte diesen Geruch. An dem Mantel, den sie noch immer trug – Cedrics Mantel – hafteten ebenfalls Spuren davon. Und obwohl sie es kaum glauben konnte, blieb die rasende Gier aus. Zögernd griff Frei nach einer der Konserven. Das Blut darin schwappte und klatschte gegen die Kunststoffhülle. Spätestens jetzt hätte sie in den altbekannten Rausch verfallen müssen. Aber selbst als sie ihre Zähne in das Plastik bohrte und das Blut herausquoll, über ihren Gaumen und ihre Zunge in ihren Rachen hineinfloss, war alles, was sie spürte, ein schwaches Ziehen in ihrem Unterleib.
Diese Musik …
Frei knüllte die leere Konserve zusammen, warf sie in die Truhe und ging zurück in den großen Raum. Cedric hatte sich wieder an den Flügel gesetzt. Neben seinem Hocker stand nun ein kleiner Rollwagen mit einer Kanne und zwei Tassen darauf, aus denen weißer Dampf aufstieg. Und von dort kam auch der Duft, der Frei schon zuvor aufgefallen war. Eine goldfarbene Flüssigkeit zitterte im Klang des Klaviers über dem dünnenPorzellan. Vorsichtig trat Frei näher und legte eine Hand auf den Rahmen des Flügels. Die Musik strömte durch sie hindurch. Sie konnte sie fühlen.
Cedric warf ihr einen
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