Unberuehrbar
schaffen. Das war die bittere Wahrheit.
Der Fremde bewegte sich ungeduldig. Sein Blick hing begierig an dem Rucksack. »Also, was ist?«
Frei atmete tief durch. Dann nickte sie widerwillig. »Okay«, flüsterte sie.
Ein zufriedenes Grinsen erschien auf den schmalen Lippen des Mannes. »Bingo.« Er rieb sich die Hände. »Dann lass Onkel Hank mal machen. Erstmal trinken wir jetzt einen Schluck zusammen, mmh. Damit kriegen wir dich schon wieder auf die Beine.« Eifrig griff er nach Freis Schultern und half ihr, sich aufzusetzen. Dann nestelte er an den Schnüren des Rucksacks, wobei er Frei nicht aus den Augen ließ.
Das Blut in den Konserven schwappte und gluckste. Unbehaglich spürte Frei, wie sich in ihr der altbekannte Jagdtrieb regte. Es wäre sehr ungünstig, wenn sie ihren zweifelhaften Retter jetzt zerfleischte. Der einzige Trost war, dass ihr gerade im Augenblick ganz bestimmt die Kraft fehlte, um in Raserei zu verfallen. Sie war ja kaum mehr als ein nasser Sack voll loser Knochen.
Der Fremde namens Hank zerrte inzwischen einen Blutbeutel aus dem Rucksack. Frei sah, wie seine Augen sich kurz weiteten, als er entdeckte, wie viele Konserven sie auf ihre Flucht mitgenommen hatte.
»Finger weg!« Sie zischte warnend und fletschte die Zähne.
Hank hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut! Du zuerst, okay? Du zuerst. Mmh. Kannst du allein sitzen?« Er drückte ihr den Plastikbeutel in die Hände und entfernte sich ein Stück, wobei er sie argwöhnisch beobachtete – als könne sie ihn wirklich jeden Moment angreifen. Dann griff er nach einer dicken Metallstange, die im Laub gelegen hatte, und hielt sie schützend vor sich, die geschliffene Spitze auf Freis Brust gerichtet. Damit musste er sie vorhin schon gestoßen haben. Es sah jedenfalls ganz so aus, als wäre er im Umgang damit geübt. Von dieser Stange durchbohrt zu werden war sicher keine angenehme Erfahrung, dachte Frei. Aber sie schaffte es nicht, ihre Gedanken länger als eine Sekunde darauf zu konzentrieren. Zu vertraut waren das Gefühl des Blutbeutels in ihrer Hand und das träge Glucksen seines Inhalts, obwohl ihre zitternden Finger ihn kaum halten konnten. Sie neigte den Kopf so weit nach unten, wie sie konnte, und schmeckte schales Plastik an ihren Lippen. »Na los, Püppi. Es geht doch nichts über einen guten Drink, mmh?«, hörte sie Hank noch sagen – dann war alles, was sie spürte, das kalte, zähe Blut, das in ihren Mund drang und klebrig süß ihre Kehle hinunterlief. Ihren Magen mit Hitze füllte. Und mit Kraft.
Als sie auch den letzten Tropfen aus dem Beutel gesaugt hatte, fühlte Frei sich schon viel besser. Langsam klärte sich ihre Sicht, und sie konnte Hank wieder sehen, der sie noch immer argwöhnisch beobachtete, die Stange vor sich ausgestreckt.
»Na, mmh? Bist du jetzt satt?«
Frei antwortete nicht. Stattdessen versuchte sie vorsichtig,sich noch ein Stück weiter aufzurichten, bis sie auf den Knien saß, und dann aufzustehen – langsam, sehr langsam, den Rucksack dabei fest umklammert.
»Hey.« Hank war dreimal so schnell auf den Füßen wie sie. »Was wird das denn jetzt? Du willst doch nicht abhauen! Wir hatten einen Deal, mmh, schon vergessen? Was ist mit meinem Blut? Mmh?« Er stupste Frei mit der Stange in die Seite, dass sie beinahe wieder umgefallen wäre. Frei keuchte.
»Wenn wir bei dir sind.« Sie drückte den kostbaren Rucksack noch etwas fester vor die Brust. »In deinem Unterschlupf.«
Hank stieß ein Schnaufen aus. »Na, hol dich doch der …«
Frei ließ ihn nicht ausreden. »Wir müssen uns beeilen«, erklärte sie entschlossen.
Hank warf einen kurzen Blick zum Himmel. Dann schüttelte er den Kopf. »Na fein. Deal ist Deal. Dann komm mal mit.«
Er wandte sich ab und pfiff nach seinem Hund, der Frei noch einmal misstrauisch beäugte, ehe er sich an Hanks Fersen heftete.
Frei atmete auf. Dann rückte sie den Rucksack vor der Brust zurecht und folgte Hank ins Unterholz.
Kapitel Vierzehn
46 West Street, Kenneth, Missouri
Cedric sah Frei nicht nach, als die Scheibe zersprang. Das Mädchen musste für den Moment allein klarkommen – er konnte ihr jetzt nicht helfen. Was ihn selbst erwartete, war schlimm genug. Und er hatte kaum Zeit, sich darauf vorzubereiten, ehe sich die Fahrstuhltür öffnete.
Steif wie ein Stock stand Cedric neben dem Flügel und beobachtete, wie Dorian seine Wohnung betrat. Dorian, der hier eindringen konnte, weil er einen Teil von Cedrics mentaler Signatur gestohlen
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