Unbescholten: Thriller (German Edition)
Ort in Erinnerung, golden und orange zugleich.
Er war in der Nacht von Bord gegangen und mit dem Fischerboot, auf dem Thierry gekommen war, nach Südjütland gefahren. In einer einsamen Bucht hatten sie in der Dunkelheit angelegt und ihre Waren abgeladen. Jens hatte alles in seinen Wagen gepackt und war dann eilig aufgebrochen.
Er parkte das Auto vor dem Haus, blieb aber noch einen Moment sitzen. Es war ein schöner Morgen. Der Tau trocknete in den ersten warmen Strahlen der Sonne. Die von Kletterrosen umrankte Tür öffnete sich, und eine alte Frau trat heraus. Sie musste den Wagen gehört haben. Sie strahlte Jens an.
Er öffnete die Autotür und stieg aus.
»Dass du herkommst und mich überraschst … Ich freue mich, dass du da bist.«
Sie setzte Tee auf und servierte ihn in ihrem abgenutzten, blau-weißen Service. Jens sah sie an. Seine Großmutter war alt, aber die Jahre schienen ihr nichts anhaben zu können. Sie wirkte weder müde noch in sich gekehrt, sondern war neugierig und lebendig, wie er sie in Erinnerung hatte.
Jens sah sich in der Küche um und nahm ein Foto vom Kaminsims. Es zeigte Opa Esben, mit Schnurrbart und breitkrempigem Hut, über der Schulter trug er ein Gewehr an einem Lederriemen.
»Dieses Bild konnte ich gar nicht oft genug ansehen. Ich fand immer, es sieht aus, als lauerte er draußen in der Savanne und jagte Elefanten. Dabei stand er nur auf einem frisch gemähten Weizenfeld hier draußen vor dem Haus und schoss Kaninchen.«
Vibeke nickte. Versunken betrachtete Jens das Foto.
»Aber wir konnten nicht so gut miteinander, oder?«
Er stellte das Bild vor sich auf den Tisch und setzte sich.
»Ich weiß nicht. Er sagte immer, du seist so maßlos. Und du hast gesagt, er sei verrückt und solle sich nicht immer einmischen. Aus irgendeinem Grund habt ihr euch oft gestritten.«
Jens hatte nie ganz begriffen, warum er sich mit seinem Großvater so schlecht verstanden hatte.
Oma Vibeke kam mit der Teekanne zurück und schenkte zwei Tassen ein.
»Jeden Sommer, wenn du kamst, habt ihr anfangs viel zusammen unternommen. Du bist mit Esben auf die Jagd gegangen, ihr wart fischen am Fluss. Nach ein paar Tagen war dann immer Schluss. Du hast dich mit irgendetwas anderem beschäftigt, und Esben zog sich zurück.«
Sie setzte sich.
»In einem Jahr, ich glaube, du warst vierzehn, warst du im Dorf einkaufen. Da gab es eine Mopedbande, die Jungen waren nur ein paar Jahre älter als du. Sie fingen Streit mit dir an, und du kamst mit einem blauen Auge nach Hause. Esben gab dir die Schuld an etwas, was du nicht getan hattest, er war überzeugt davon, dass du den Streit vom Zaun gebrochen hättest.«
Jens erinnerte sich.
Nachdem Vibeke einen Schluck getrunken hatte, fuhr sie fort: »Ein paar Tage bevor du nach Hause fahren solltest, bist du allein mit dem Rad ins Dorf gefahren. Du hast alle Jungs einzeln abgepasst und jedem von ihnen die Nase gebrochen. Du hast gestrahlt, als du nach Hause kamst, aber du hast nichts erzählt. Ich bekam es erst heraus, als du abgereist warst.«
Vibeke lächelte.
»Esben machte sich immer Sorgen um dich. Er sagte, dass du nie aufgeben würdest, selbst wenn du wüsstest, dass du verloren hast.«
»Damit hat er wohl recht gehabt.« Er überlegte einen Moment, bevor er fortfuhr: »Das tue ich wohl immer noch nicht.«
Jens leerte seinen Tee und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. »Ich hatte es jeden Sommer eilig hierherzukommen und mochte es nicht, wieder nach Hause fahren zu müssen.«
Sie gingen spät zu Bett, Jens lag noch lange wach und starrte an die Decke. Das Bett war tief wie eine Badewanne. Er versuchte sich an die Nächte zu erinnern, in denen er als Kind in diesem Bett gelegen hatte. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, wohin das Leben ihn geführt hatte. Wie lange wollte er mit diesem Waffenschmuggel noch weitermachen? Er schlief auf dem Rücken liegend ein, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Seine Träume führten ihn tief hinab in einen Abgrund. Er war allein. Die Dunkelheit lag wie eine Decke über ihm. Er versuchte zu schreien, aber kein Laut kam aus seiner Kehle. Unwillkürlich schlug er die Augen auf.
Vor ihm auf der Bettkante saß Michail, eine Hand um seinen Hals und in der anderen eine Pistole, deren Mündung auf sein Gesicht gerichtet war, und schaute ihn an. Sein Blick war kalt und aufmerksam.
»Die Autoschlüssel.«
Jens hatte keine Wahl. »Auf der Kommode im Flur.«
Michail versetzte ihm einen gezielten Schlag mit dem
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