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Unbeugsam

Unbeugsam

Titel: Unbeugsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Hillenbrand
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Entfernung durch die Oberfläche stieß, hörten die Männer den Klang in absoluter Deutlichkeit. Sie beobachteten die makellosen Wasserkreise, die sich um die Stelle herum bildeten, wo der Fisch gesprungen war, und wie sie allmählich wieder in die vollkommen reglose Glätte ausliefen.
    Eine Weile sprachen sie miteinander, tauschten sich über ihr Staunen aus. |195| Dann versanken sie in ehrfürchtiges Schweigen. Sie waren nicht hungrig oder durstig. Sie spürten nicht, wie der Tod immer näher kam.
    Als Louie diese wunderschöne, stille Welt anschaute, ging ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihm auch zuvor schon gekommen war, wenn er Meeresvögel auf der Jagd beobachtete und ihre Fähigkeit bewunderte, sich bei ihren Tauchmanövern präzis auf die Brechung des Lichts im Wasser einzustellen. Er hatte diesen Gedanken, als er den erstaunlich ebenmäßigen Körperbau der Haie betrachtete, die Schattierungen auf ihrer Haut, ihre Art, sich durch das Wasser zu bewegen. Er erinnerte sich, dass dieser Gedanke schon in seiner Jugend mit ihm umgegangen war, als er auf dem Dach der Hütte im Reservat der Cahuilla lag und seine Zane Grey-Lektüre unterbrach, um zuzuschauen, wie sich die Nacht über die Erde senkte. Solche Schönheit, so dachte er bei sich, war zu vollkommen, als dass sie nur durch Zufall entstanden sein konnte. Dieser Tag mitten im Pazifik erschien Louie als ein Geschenk, das bewusst und liebevoll ihm und Phil zugedacht war.
    Voller Freude und Dankbarkeit inmitten ihres langsamen Sterbens badeten die beiden Männer in diesem Tag, bis der Sonnenuntergang ihm und ihren Stunden in den Kalmen ein Ende setzte.
     
    Bedenkt man, in welch schlimmem Zustand die Körper der Männer waren, dann wäre es nur logisch gewesen, wenn sie allmählich auch geistig abgebaut hätten. 9 Doch nach mehr als fünf Wochen ihres Martyriums erfreuten sich Louie und Phil bemerkenswerter Geistesschärfe, und sie waren überzeugt, dass diese Klarheit mit jedem Tag noch zunahm. Nach wie vor befragten sie sich gegenseitig, verfolgten ihre Geschichten bis in die hintersten Detailwinkel, brachten sich gegenseitig Lieder und Gedichte bei und bereiteten imaginäre Mahlzeiten zu.
    In Louies Vorstellung war das Boot eine erstaunliche geistige Rückzugsstätte. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie laut die zivilisierte Welt war. Hier aber, wo sie in fast vollkommener Stille dahintrieben, wo es keine Gerüche gab außer dem versengten Geruch des Bootes, keinen Geschmack auf seiner Zunge, nichts, was sich bewegte, außer den langsam vorübergleitenden Haien, so weit das Auge reichte nichts als Wasser und Himmel, wo die Zeit gleichförmig und ungeteilt verstrich, hier war sein Geist frei von den Lasten, die die Zivilisation ihm aufgebürdet hatte. In seinem Kopf konnte er sich überallhin bewegen, und er spürte, wie wendig und klar sein Geist war, wie unbelastet und beweglich seine Vorstellungskraft. Er konnte stundenlang bei einem Gedanken verweilen, ihn im Geiste hin- und herwenden.
    Sein Erinnerungsvermögen war schon immer exzellent, auf dem Boot jedoch |196| wurde sein Gedächtnis noch schärfer, es reichte noch weiter zurück, und es kamen Details zutage, an die er sich früher nicht hatte erinnern können. Eines Tages, als er seine früheste Erinnerung aufzuspüren versuchte, sah er ein zweistöckiges Gebäude vor sich und darin einen Treppenaufgang, der in zwei Abschnitte von je sechs Stufen aufgeteilt war, dazwischen ein Absatz. Er selbst war auch in diesem Bild, als sehr kleines Kind, das die Treppe hinunterkrabbelte. Als er den ersten Abschnitt der Stufen geschafft hatte und sich auf die Kante des Treppenabsatzes zubewegte, tauchte vor ihm ein großer hellbrauner Hund auf und versperrte ihm den Weg, damit er nicht abstürzte. Das war der Hund seiner Eltern, Askim, den sie in Olean hatten, als Louie noch sehr klein war. An ihn hatte sich Louie zuvor nie erinnert. 20*
     
    Am 40. Tag lag Louie neben Phil unter dem Sonnenschutzsegel. Urplötzlich fuhr er hoch. Er vernahm Gesang. 10 Er hörte genauer hin; es klang wie ein Chor. Er stieß Phil an und fragte ihn, ob er es auch hören könne. Phil verneinte. Louie rollte das schützende Tuch zurück und blinzelte ins Tageslicht. Auf der immensen Fläche des Ozeans war weit und breit nichts zu sehen. Er wandte seinen Blick nach oben.
    Über sich sah er menschliche Gestalten, die in einer hellen Wolke schwebten und sich deutlich gegen den Himmel abhoben. Er zählte 21. Sie sangen die wundersamste

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