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Unbeugsam

Unbeugsam

Titel: Unbeugsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Hillenbrand
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Weise, die er je gehört hatte.
    Louie starrte nach oben, staunend, lauschend. Was er sah und hörte, war unmöglich, und doch hatte er das Gefühl, vollständig bei Sinnen zu sein. Er war überzeugt: Das war keine Halluzination und keine Vision. Er sah hinauf zu den schwebenden Sängern, hörte ihren Stimmen zu, prägte sich die Melodie ein, bis sie entschwanden.
    Phil hatte nichts gesehen und gehört. Was auch immer das gewesen sein mochte, so Louies Schlussfolgerung, es war ganz allein für ihn bestimmt.
     
    Die Männer trieben weiter. Mehrere Tage vergingen ohne Nahrung und ohne Regen. Das Material des Bootes war zu einer gallertartigen Masse geschrumpft, |197| die Flicken hielten nur noch notdürftig, an einigen Stellen quollen sie nach außen, bald würden sie platzen. Sehr viel länger konnte das Boot das Gewicht der Männer nicht mehr tragen.
    Am Himmel bemerkte Phil einen Unterschied. Es waren mehr Vögel unterwegs. 11 Dann irgendwann begannen sie Flugzeuge zu hören. 12 Manchmal sahen sie einen winzigen Punkt am Himmel, manchmal auch zwei oder mehr im Verbund, und ein entferntes Brummen war zu vernehmen. Sie waren immer viel zu weit weg, als dass es Sinn gehabt hätte, einen Kontakt herzustellen; beide waren sich außerdem darüber im Klaren, dass es sich eingedenk der weiten Strecke, die sie mittlerweile in Richtung Westen zurückgelegt hatten, bei den Flugzeugen mit ziemlicher Sicherheit um Maschinen der Japaner handelte. Mit jedem neuen Tag erschienen mehr Punkte, und jeden Tag tauchten sie früher auf.
    In Louie war eine große Liebe zu den täglichen Sonnenaufgängen entstanden und zu der Wärme, die sie mit sich brachten. Jeden Morgen lag er im Boot, die Augen auf den Horizont gerichtet, und erwartete die Sonne. Am Morgen des 12. Juli, dem 46. Tag, den Phil als den Tag vorausgesagt hatte, an dem sie wohl auf Land stoßen würden, erschien keine Sonne. An einem finster brütenden Himmel war lediglich ein schemenhafter, unheimlicher Lichtfleck zu sehen.
    Besorgt schauten Phil und Louie nach oben. Eine scharfe Bö erfasste sie. 13 Die See unter dem Boot bäumte sich auf und schleuderte die Männer in schwindelnde Höhen. Louie schaute über die aufgewühlten Wogen und dachte bei sich, wie grandios das doch alles war. Phil liebte das Achterbahngefühl auf den großen Wellen, 14 die die Stürme mit sich brachten, er genoss es, eine Welle hinunterzurauschen und von unten nach dem Gipfel der nächsten Welle Ausschau zu halten, doch das hier war auf unheimliche Weise anders.
    Im Westen tauchte etwas auf, so weit entfernt, dass man es nur von den Wellenkämmen aus sehen konnte: eine grau-grüne, geschlängelte Form am Horizont. 15 Phil und Louie waren sich später nicht einig, wer sie zuerst gesehen hatte, doch in dem Moment, da der Ozean sie hochschleuderte, der Horizont sich nach Westen öffnete und ihre Blicke darauf fielen, wussten sie, was es war.
    Eine Insel.

|207| VIERTER TEIL
    |209| 18
Eine atmende Leiche
    D urch das Fenster in der Tür von Louies Zelle kam etwas geflogen, traf auf dem Boden auf und zerbrach in weiße Stücke. 1 Es waren zwei Scheiben Schiffszwieback, wie ihn die Matrosen als Standardration bekamen. Auf die Kante des Türfensters wurde eine winzige Schale Tee gestellt – das Getränk war so schwach, dass es kaum mehr als heißes Wasser war, und es reichte gerade einmal für einen Schluck. Phil bekam auch etwas zu essen, aber kein Wasser. Er und Louie krochen durch ihre Zellen, lasen die Zwiebackkrümel auf und steckten sie in den Mund. Draußen stand eine Wache.
    Vor Louies Zelle ertönte ein Rascheln, und ein Gesicht tauchte auf. 2 Der Mann sprach Louie auf Englisch namentlich an und begrüßte ihn gutgelaunt. Louie starrte zu ihm hoch.
    Es handelte sich um einen Ureinwohner von Kwajalein, und er erzählte, die Schiffbrüchigen seien auf der Insel Tagesgespräch. Als Sportfanatiker war ihm Louies Name aufgefallen, den Louie seinen Entführern angegeben hatte. Er fing an, weitschweifig über Leichtathletik, Fußball und die Olympischen Spiele zu reden und machte nur selten einmal eine Pause, um Louie irgendwelche Fragen zu stellen. Und kaum hatte Louie ein oder zwei Worte von sich gegeben, setzte der Andere seine Suada fort.
    Nach ein paar Minuten sah der Mann von Kwajalein dann auf seine Uhr und meinte, er müsse jetzt gehen. Louie fragte ihn, was mit den Marinesoldaten passiert war, deren Namen an der Wand standen. In unverändert munterem Ton antwortete der Mann, sie seien alle

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