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Unbeugsam

Unbeugsam

Titel: Unbeugsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Hillenbrand
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Urin; nachts wachte er davon auf, dass sie über sein Gesicht glitschten. Manchmal wurde er aus seiner Zelle hinausgezerrt, vor eine Wasserschüssel gestellt und aufgefordert, sich Gesicht und Hände zu waschen. Phil tauchte sein Gesicht in die Schüssel und schlürfte Wasser in sich hinein.
    Immer wieder starrte Louie die Namen der Marinesoldaten an und fragte sich, wer sie gewesen waren, ob sie Frauen und Kinder gehabt hatten, wie sie gestorben waren. Eines Tages nahm er seinen Gürtel ab und bog den Dorn der Schnalle nach oben. 8 In großen Blockbuchstaben grub er seinen Namen neben die anderen in die Wand.
    Louie konnte nicht mit Phil sprechen und Phil nicht mit ihm, aber immer wieder hustete einer der beiden oder scharrte auf dem Boden, damit der andere wusste, dass er noch da war. Als die Wachen einmal weggingen und die Zellen unbeaufsichtigt zurückließen, waren Phil und Louie das erste Mal wieder allein. Louie hörte Phils Stimme.
    »Wie wird das weitergehen?« 9
    Louie hatte keine Antwort. Man hörte den harten Tritt von Stiefeln im Korridor, und Phil und Louie verstummten.
     
    |212| Die Wachen waren ununterbrochen wütend auf die Gefangenen, sie warfen ihnen zornige Blicke zu, machten Drohgesten, schrien sie an. 10 Praktisch jeden Tag bekamen sie Wutanfälle, die normalerweise damit endeten, dass sie Steine und brennende Zigaretten nach Phil und Louie warfen, nach ihnen spuckten und mit Stöcken nach ihnen stießen. Schon nach kurzer Zeit fand Louie heraus, dass ihm wieder eine solche Behandlung bevorstand, wenn er hörte, dass sich ein Wachsoldat mit deutlich schwereren Schritten näherte – eine Reaktion, wie Louie hoffte, auf einen Sieg der Amerikaner. Die Situation verschlimmerte sich, wenn ein Wachtposten sich in Gesellschaft befand; er benutzte dann die Gefangenen, um vor seinen Kameraden mit seiner Grausamkeit zu prahlen.
    Auslöser für einen großen Teil dieser brutalen Ausbrüche waren Verständnisprobleme. Die Gefangenen und ihre Wachen stammten aus zwei verschiedenen Kulturen, zwischen denen es praktisch keinerlei sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten gab. Es war Louie und Phil nahezu unmöglich zu verstehen, wonach sie gefragt wurden. Auch Gebärdensprache half da kaum etwas, waren doch sogar die in beiden Kulturen gebräuchlichen Gesten unterschiedlich. Die Wachen hatten wie fast sämtliche Bürger dieser seit je isolierten Nation wahrscheinlich noch nie zuvor einen Ausländer getroffen, hatten also wohl auch keine Erfahrung darin, mit Menschen zu kommunizieren, die keine Japaner waren. Wenn sie nicht verstanden wurden, gerieten sie häufig dermaßen außer sich, dass sie die Gefangenen anschrien und schlugen.
    Aus Gründen des schlichten Selbstschutzes achteten Louie und Phil daher genau auf alles, was sie hörten, und eigneten sich allmählich ein beschränktes japanisches Vokabular an.
Kocchi koi
bedeutete »komm her«.
Ohio
war ein Gruß der Wachsoldaten in seltenen Momenten der Höflichkeit. Obwohl Louie schnell wusste, was es bedeutete, blieb seine notorische Antwort darauf: »Nein, Kalifornien.« Phil lernte das Wort für Wasser,
mizu,
doch nützte ihm das nichts; seine Schreie nach
mizu
verhallten ungehört.
    Wenn die Wachen nicht ihre Wut an den Gefangenen ausließen, machten sie sich einen Spaß daraus, sie zu demütigen. Jeden Tag wurde Louie mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen, aufzustehen und zu tanzen; torkelnd und taumelnd absolvierte er einen Charleston, während die Wachsoldaten sich vor Lachen bogen. Sie ließen Louie pfeifen und singen, warfen Hände voll Kies nach ihm, verhöhnten ihn, wenn er in seiner Zelle umherkroch, um Reiskörner einzeln aufzulesen, und mit langen Stöcken, die sie durch das Fenster in der Tür steckten, schlugen sie ihn, stachen auf ihn ein und amüsierten sich köstlich über seine hilflosen Verrenkungen.
    |213| Am anderen Ende des Korridors war Phil denselben Torturen ausgesetzt. Hin und wieder konnte Louie Phils Stimme hören, ein leises, dünnes Stöhnen. Einmal rastete Louie dann doch aus, als ein Wächter wieder nach ihm stocherte: Er zerrte ihm den Stock aus der Hand, wohl wissend, dass er damit sein Leben aufs Spiel setzte, aber etwas in ihm hatte sich unter dieser permanenten Erniedrigung verändert: Sein Lebenswille, der sämtlichen Herausforderungen auf dem Rettungsboot widerstanden hatte, begann sich aufzulösen.
    Der Absturz der
Green Hornet
hatte Louie und Phil in eine äußerste physische Notlage gebracht, sie hatten keine

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