Und da kam Frau Kugelmann
Abend ein und verstarb noch in derselben Nacht, ohne aufzuwachen.«
Frau Kugelmann schlüpft in die Schuhe, nimmt ihre Basttasche unter den Arm, verabschiedet sich und sagt, sie käme morgen früh zur gleichen Zeit wieder. Warum geht sie? Vielleicht sucht sie noch einen weiteren Gast auf, um ihre Geschichten zu erzählen? Oder ist sie von ihren eigenen Erinnerungen so ergriffen, dass sie nicht weiterreden mag? Von der Polin möchte ich mehr hören. Irgendwie gefällt sie mir. Sie interessiert mich. Nein, sie imponiert mir. Wie die stolze Polin sich gegen die Feindseligkeit ihrer Handarbeitslehrerin zur Wehr setzte! Einfach mundtot gemacht, mit einem einzigen beißend scharfen Satz. Hut ab! Wie mutig sie im Vergleich zu mir war. Als mir ein Sechsjähriger, alt genug, um Gehörtes wiederzugeben, aber zu jung, um es fehlerfrei auszusprechen, in der ersten Klasse ›Verrecke du blöde Düdin‹ nachrief, bin ich, die einzige Jüdin meiner Klasse, vor Schreck erstarrt und habe so getan, als hörte ich seine hässliche Beschimpfung nicht. Still an der Wand entlangzugehen, nicht aufzufallen, so lautete Vaters Anweisung, die er mir am Tag vor meiner Einschulung gab. Ängstlich klammerte ich mich daran. Nach den feindseligen Worten des Klassenkameraden atmete ich kaum, blickte auf die weißgetünchte Wand und stellte mir vor, sie würde sich schützend wie eine Festung um meinen Körper legen. Das Klassenzimmer verließ ich erst, als die anderen eine Zeit lang außer Hörweite waren. Wie couragiert die Polin doch einst war! Wie aber konnte eine so starke, freiheitsliebende junge Frau plötzlich ein frommes, gottgefälliges Leben führen? Nur um ihre quälenden Selbstvorwürfe loszuwerden? Wie fromm wurde sie? Rasierte sie sich, wenn sie denn jemals verheiratet war, den Schädel kahl und setzte eine Echthaarperücke auf? Versteckte die schönen Beine unter einem bodenlangen Rock? Sinnlos vergeudete Jahre, denn am Ende ihres Lebens haben ihre Alpträume sie doch wieder eingeholt.
Seufzend reiße ich die Balkontüre auf und trete hinaus. Das Meer liegt ruhig, fast bewegungslos wie ein gewaltiges bläulich grünes Auge in der sandigen Bucht. Am Himmel schichten sich weiße Wolken auf. Die feuchte Luft glüht. Neidisch blicke ich auf ein Grüppchen von jungen Müttern, die mit ihren Kleinkindern laut schwatzend unter einem mitgebrachten Sonnenschirm sitzen. Sie bieten ihren Kindern kalte Getränke aus einer entzückenden tragbaren roten Kühlbox an, von der ich meine Augen kaum lösen kann. Die Lippen zusammengekniffen, die Zigarette im Mund, schenken sie sich ab und an bitteren, heißen Kaffee aus abgegriffenen Thermoskannen in Pappbecher ein, öffnen mit arbeitsamen Händen bis an den Rand gefüllte quadratische Plastikschüsseln, aus denen weiße runde Fladenbrote und ölige Salate hervorquellen. Ein später Morgen am Strand einer Küstenstadt. Die barfüßigen Strandbesucher verbringen müßig ihre freien Stunden auf cremefarbenen Bastmatten, dazwischen engumschlungene Liebespaare, in gebührendem Abstand von den streng riechenden Obdachlosen, vor sich hindösende Nachtschichtarbeiter, die längst ihren Schlaf- und Wachrhythmus verloren haben. Am Ufer spielen sehnige junge Männer Racketball, schlagen sich in der flirrenden Hitze unermüdlich schwarze harte Gummibälle zu, die sie mit einem kleinen handlichen Schläger auffangen. Einige Strandlinge verharren ausgestreckt am sandigen Meeresufer, die feucht glänzenden Körper halb bedeckt vom warmen fließenden Schaum der trägen Brandung. Ob die Polin auch so genüsslich im Meereswasser lag? Ob sie hier heimisch wurde? Wie viele Nächte lag sie schlaflos wach und dachte an ihre alte Heimat? An den lautlosen weichen Gang durch den frisch gefallenen Schnee, an den Geschmack der süßen Beeren in den dicht belaubten Wäldern? Wie viel musste sie von sich selbst aufgeben, um sich in diesem dürren, mühevoll bepflanzten Fingerhut voll Land einleben zu können? Welche Traditionen behielt sie bei? Wie lange aß sie noch die heiße polnische Suppe vor jedem Hauptgericht? Wie viele Jahre lang räumte sie, aus alter Gewohnheit, im sommerheißen mediterranen September die herbstlichen Pullover hervor?
Eine harsche Stimme am Megaphon rüttelt mich aus meinen Gedanken. Ein rüder scharfer Befehlston ertönt, dem sich niemand widersetzen darf. Markerschütternde Polizeisirenen zerreißen die ruhige warme Luft. Die Megaphonstimme befiehlt, umgehend den Strand zu räumen. Ich stehe
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