Und da kam Frau Kugelmann
befand. Zu einem Bruch der Kulturen ist es in Polen erst nach Marschall Pilsudskis Tod gekommen, und bald danach kam es zum Vorfall mit der Schere in Chaias christlicher polnischer Schule. An diesem Tag fiel der Deutschunterricht aus. Die Klasse bekam eine Vertretung, Frau Swoboda, eine Lehrerin für Handarbeit. Die Mädchen hatten ihren Handarbeitskorb zu Hause gelassen, aber die eine oder andere Schülerin hatte Nadel, Faden oder Stickzeug dabei, so dass bald alles für den Unterricht beisammen war. Nur eine Schere fehlte. Die Lehrerin rief: ›Wer von euch hat eine Schere?‹ Die Polin meldete sich und brachte der Swoboda die schöne, mit Rosen verzierte Schere, die sie immer bei sich trug. ›Nein‹, zeterte die Frau Swoboda, ›so eine Schere fasse ich nicht an, die riecht ja nach Zwiebeln und Knoblauch.‹ Die Polin schwieg. Sie ging mit ihrer schönen versilberten Schere, die Cousin Motke aus England eigens für sie mitgebracht hatte, zurück an ihren Platz. Zwei Monate später hatte die Swoboda wieder Vertretungsunterricht, suchte erneut nach einer Schere, und diesmal hatte wirklich niemand eine dabei, außer der großen starken Polin. Die Swoboda aber brauchte dringend eine Schere, ging auf die Polin zu und verlangte in barschem Ton ihre silberne Schere. ›Nein‹, sagte die Polin, ›die können Sie nicht nehmen, die riecht heute ganz besonders scharf nach Zwiebeln und Knoblauch, Ihnen wird ganz übel werden.‹
Nach dem Vorfall verweigerte die stolze Polin samstags den Unterricht. Sie erschien zwar pünktlich im Klassenzimmer, ging jedoch nicht zur Tafel, schrieb keine Klassenarbeiten mit, beantwortete keine Fragen, saß stumm wie ein Fisch auf ihrer Bank. Samstags wollte sie anders sein als ihre Kameradinnen mit den gutriechenden Scheren. Montags waren die Geruchsunterschiede der Scheren wieder vergessen, die Polin lachte und scherzte, zeigte sich im Unterricht munter und interessiert. Dennoch verließ sie noch im gleichen Jahr die Schule. Wie das kam? Das war wegen dem Liebeswahn. Die starke Chaia hat sich in dem schönen Kurort Krynica während der Sommermonate bis über beide Ohren in unseren Schmulek Weinreb verliebt. Er war einer der älteren Schüler im Fürstenberg-Gymnasium. Chaia bedrängte ihre ahnungslosen Eltern, rasch einem Schulwechsel zuzustimmen, und erreichte innerhalb von drei Wochen ihr Ziel. Der Schmulek Weinreb aber war viel zu sehr in das Kommunistische Manifest vertieft, um die leidenschaftliche Liebe der Polin erwidern zu können. Und Chaia wiederum ahnte nicht, dass der Weinreb bereits im gleichen Jahr aus unserer Schule geworfen werden würde, weil unser Herr Direktor keine kommunistischen Schüler in seinem Gymnasium duldete.
›Chaia Kornwasser‹, schrie der Mathematiklehrer Rado die Polin im ersten Jahr nach dem Schulwechsel an, ›nachmittags mit dem Weinreb Arm in Arm, da klappt wohl alles, aber an der Tafel klappt gar nichts!‹ Als die Polin wegen dieser Bemerkung in Wut geriet, schnitt der Rado ihr das Wort ab und schickte sie eine Woche lang während seines Unterrichts vor die Tür.
Der Rado, unser Mathematiklehrer, war kein gerechter Lehrer und obendrein noch ein auffallend hässlicher Mann. Aus seinem dunklen, vernarbten Gesicht sprang eine große fleischige Nase hervor, und das spärliche Haar lag wie ein verblühter Kranz rund um den glatzköpfigen Schädel. So schritt der dickliche Mann vornüber geneigt von Klassenzimmer zu Klassenzimmer. Aber wenn er sprach, geschah etwas Außergewöhnliches mit ihm. Seine vibrierende, betörende Stimme richtete ihn auf, erhellte sein dunkles Gesicht, verwandelte ihn vor unseren Augen in einen fesselnden jungen Mann, dem wir gebannt bis zum Läuten zuhörten.
Rado war in ganz Bendzin als Schürzenjäger bekannt. Mit seiner Stimme umschmeichelte er die Frauen, seine jungen Schülerinnen aber verachtete er zutiefst. Kühe nannte er uns abfällig, und es waren beileibe nicht alle Schülerinnen schwach in Mathematik, manche waren sogar klüger und fleißiger als die Jungen. Jeden Morgen betrat er die Klasse und rief: ›Kühe auf die Seite‹, damit waren wir gemeint. Anfangs war die Polin darüber wütend und beleidigt, aber nach ein paar Monaten passte sie sich an, denn beleidigt zu sein hätte bedeutet, wegzuhören und als Folge schlechter benotet zu werden, und das wollte keine von uns.
Nachdem der Weinreb von der Schule geflogen war, entwickelte die verlassene Polin eine sonderbare Eigenschaft: Das Quälen bereitete
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